Frage an Monika Lazar von Jürgen D. bezüglich Menschenrechte
Liebe Frau Lazar,
meine Frage bezieht sich auf die gestrige Abstimmung zum "Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage ...", das Sie, ebenso wie fast Ihre gesamte Fraktion, befürwortet haben.
Was mir in der Berichterstattung auch in ÖR-Medien leider zu kurz kam (z.B. DLF, Tagesschau, Tagesthemen), ist, wie der Beschluss zustande gekommen ist und was das Parlament ggf. noch am Entwurf verändert hat/verbessern(?) konnte.
Ich habe mich etwas auf bundestag.de im Gesetzentwurf und weiteren Dokumenten informiert und auch mit Interesse die Reden von Bärbel Bas und Manuela Rottmann angesehen.
1. Inwieweit stimmen Sie der Aussage von Frau Bas zu: "... die Befürchtungen, dass wir hier ... die Ermächtigungen ausweiten ... genau das Gegenteil ist der Fall ..."?
(https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7484235#url=bWVkaWF0aGVrb3ZlcmxheT92aWRlb2lkPTc0ODQyMzU=&mod=mediathek ca. bei Minute 00:45-01:05)
2. Hier (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw47-de-bevoelkerungsschutz-804202) lese ich von "Angenommener Koalitionsentwurf ... Festgeschrieben wird auch eine Berichtspflicht der Bundesregierung an den Bundestag."
Im Gesetzentwurf führt eine Suche nach "Bericht" aber zu keinem Ergebnis. - Welche Berichtspflicht wurde beschlossen und wo steht die?
Meiner Meinung nach sollten Ausweitungen der Macht der Exekutive auch immer mit mehr echter Transparenz und Kontrollmöglichkeiten mindestens durch das Parlament einhergehen.
3. Im gestern auch von Ihnen beschlossenen Gesetzentwurf werden im neuen §28a für SARS-CoV-2 weiterhin Schwellwerte in Bezug auf Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von 7 Tagen als Grundlage verwendet.
Ist das nicht eine viel zu grobe Vereinfachung im Hinblick auf Anzahl Tests, Dunkelziffer von symptomfrei Infizierten, Anteil von schweren Erkrankungen und Intensivstationskapazität sowie in Zukunft bei Verfügbarkeit eines Impfstoffes?
Vielen Dank für Ihre Arbeit und viele Grüße,
Jürgen Deißner
Sehr geehrter Herr Deißner,
danke für Ihre Email zum dritten Gesetz „zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite", die ich gern beantworte.
Ich finde es gut, dass Sie sich sachlich und differenziert mit dem Gesetzestext beschäftigen.
Dabei wunderten Sie sich, dass Sie im Gesetzestext das Wort "Bericht" nicht fanden. Die Erklärung liegt darin, dass im Internet bisher nur der ursprünglich vorgelegte Gesetzentwurf von Anfang November (vor der Abstimmung in den Ausschüssen und den eingearbeiteten Änderungen) verfügbar ist. Dieser Text wird in den nächsten Tagen redaktionell angepasst und dann das beschlossene Gesetz veröffentlicht. Im Plenum stimmten die Abgeordneten deshalb nicht nur über den ersten Gesetzentwurf, sondern auch über die Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses ab, in der Anpassungen stehen.
Dort findet Sie auch die Passage: "Solange eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt ist, unterrichtet die Bundesregierung den Deutschen Bundestag regelmäßig mündlich über die Entwicklung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite."
Die gesamte Beschlussempfehlung können Sie hier nachlesen:
https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/243/1924334.pdf
Die von manchen Kreisen und Personen gezogene Parallele zwischen dem neuen Entwurf des Infektionsschutzgesetzes und dem Reichsermächtigungsgesetz finde ich abwegig und historisch nicht sachgerecht. Es ist rechtsextreme Propaganda. Beide Gesetze sind weder in ihren Zielrichtungen noch in ihren Auswirkungen gleichzusetzen. Mit dem Ermächtigungsgesetz ging die gesamte gesetzgebende Gewalt faktisch vollständig an Adolf Hitler über. Er hatte das Gesetz vorgelegt, um seine Macht auszubauen. Das führte zu unermesslichem Leid und dem Tod vieler Menschen. Zweck der Bevölkerungsschutzgesetze ist es hingegen, die Corona-Pandemie einzudämmen und dadurch Gesundheit und Leben vieler Menschen zu schützen.
Zum Gesetz gab es ein demokratisches Verfahren. Es wurde, wie üblich, in den Ausschüssen und Parlamenten debattiert. Es fand auch eine vierstündige, öffentliche Anhörung von Sachverständigen statt, die ebenfalls Kritik äußerten, welche wesentlich in das Gesetz einfloss:
https://www.bundestag.de/#url=L2Rva3VtZW50ZS90ZXh0YXJjaGl2LzIwMjAva3c0Ni1wYS1nZXN1bmRoZWl0LWJldm9lbGtlcnVuZ3NzY2h1dHotODAzMTU2&mod=mod531790)
Kritikwürdig ist allerdings, wie schnell das Gesetz verabschiedet werden sollte. Wir hätten diese rechtliche Grundlage gerne früher geschaffen, aber die Koalition war nicht bereit dazu. Schon seit Mai drängen wir auf eine stärkere Einbindung des Parlaments. Und gefordert haben wir von Anbeginn: einheitlicher Rahmen, Anwendung je nach Infektionsgeschehen. Leider bedurfte es erst der Warnung aus den Gerichten, bis sich da etwas bewegt hat. Gleichzeitig sind wir mitten in der zweiten Welle der Pandemie und müssen die Grundlage dafür schaffen, dass wir diese zweite Welle effektiv brechen können und so die absehbare Überlastung von Pflegekräften und Ärztinnen und Ärzten auf unseren Intensivstationen verhindern. Die diesbezüglichen Hilferufe von medizinischem Personal muss die Politik ernst nehmen. Das ist auch das Ziel der beschlossenen Stellenwerte.
Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat lange dafür gekämpft, dass der Bundestag darüber entscheidet, welche Maßnahmen gegenüber der Bevölkerung insgesamt erlassen werden dürfen und unter welchen Voraussetzungen. Auch die Gerichte teilen unsere Auffassung, dass die Landesverordnungen eine ausreichende, vom Parlament beschlossene Grundlage brauchen. Diese schaffen wir nun. Wir verbessern also die Beteiligung der gewählten Abgeordneten und vergrößern den Einfluss des Parlaments auf die Maßnahmen. Die Bekämpfung der Pandemie wird demokratischer und rechtssicherer. Wir regeln klarer, unter welchen Bedingungen in Grundrechte zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens eingegriffen werden darf. Das ist nichts Besonderes oder Neues, sondern passiert bei den meisten Gesetzen, die der Bundestag verabschiedet. Grundrechte gelten nicht absolut. Sondern die unterschiedlichen Grundrechte müssen durch den Gesetzgeber, die Parlamente in Bund und Land immer wieder in ein Verhältnis gesetzt werden. Durch Gesetze kann natürlich und selbstverständlich in Grundrechte eingegriffen werden. Das ist ganz normal. Das Arbeitsschutzgesetz oder Gaststättengesetz greifen in die Berufsfreiheit ein, jedes Verkehrsschild greift in die allgemeine Handlungsfreiheit ein. Wir brauchen aber für Grundrechtseingriffe konkrete, vom Parlament beschlossene Erlaubnisse, die die Voraussetzungen, den Zweck und die Grenzen für solche Eingriffe regeln. Daran fehlte es bisher bei den zum Teil erheblichen Eingriffen in die Grundrechte durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Bisher bot lediglich eine relativ weit gefasste und unbestimmte Generalklausel in § 28 IfSG einen grundlegenden rechtlichen Orientierungsrahmen. Die Länder füllten diesen Rahmen durch ihre jeweiligen Infektionsschutzverordnungen. Wir beschreiben mit dem neuen Paragraphen § 28a IfSG den Rahmen, innerhalb dessen Bundesregierung und Landesregierungen agieren können. Wir arbeiten also an einer gesetzlichen Grundlage für die Beschränkungen. Aber wir heben nicht die Grundrechte auf! Selbstverständlich können gesetzliche Regelungen und Verordnungen weiterhin von den Gerichten am Maßstab der Grundrechte überprüft werden. Ob die Veränderungen ausreichen, wurde im Bundestag diskutiert und abgestimmt. Die Plenardebatte dazu war öffentlich und Sie haben sich auch darüber informiert.
Sie fragen konkret, welche Änderungen eingearbeitet wurden. Folgende Punkte konnten wir im Vorfeld der Abstimmung bei langen fachlichen Debatten mit der Koalition im Gesetzentwurf durch unsere Sachargumente verbessern:
Der Zweck der Maßnahmen – Schutz von Leben und Gesundheit sowie Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens – ist näher konkretisiert.
Beschränkungen und Untersagungen von Kulturveranstaltungen werden nicht mehr gleichranging mit Einschränkungen anderer, etwa Freizeitveranstaltungen genannt. Damit wird dem besonderen verfassungsrechtlichen Rang von Kunst und Kultur Rechnung getragen. In der Begründung wird ausdrücklich auf den Verfassungsrang hingewiesen.
Besuchsbeschränkungen in Alten-/ Pflegeheimen, Geburtshilfestationen oder Krankenhäusern für enge Familienangehörige sind nur unter erhöhten Voraussetzungen zulässig. Solche Beschränkungen dürfen nicht zur Isolation von Personen oder Gruppen führen. Ein Mindestmaß an sozialen Kontakten muss gewährleistet bleiben.
Die Untersagung von Versammlungen und Zusammenkünften, die unter dem Schutz der Religionsfreiheit stehen, ist nur unter erhöhten Voraussetzungen und nur dann, wenn andere Schutzmaßnahmen nicht ausreichend sind, zulässig.
Generelle Ausgangsbeschränkungen sind nicht möglich, sondern nur – unter erhöhten Voraussetzungen – Beschränkungen des Ausgangs zu bestimmten Zeiten oder Zwecken.
Die Kontaktdatenverarbeitung ist auf den Zweck der Nachverfolgung von Kontaktpersonen zur Eindämmung der Verbreitung der Infektion beschränkt, ebenso die Weitergabe. Es gibt eine Löschungsfrist von 4 Wochen.
Die Rechtsverordnungen müssen begründet werden und sind auf 4 Wochen zu befristen. Mit der Befristung wird sichergestellt, dass neue Entwicklungen berücksichtigt werden und ob eine Aufrechterhaltung verhältnismäßig wäre.
Die Eingriffsbefugnisse des neu zu schaffenden § 28a IfSG sind an die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundestag im Sinne von § 5 Abs.1 S.1 IfSG gebunden. Hebt der Bundestag die nationale Pandemielage auf, sind die besonderen Schutzmaßnahmen nach dem neu einzufügenden § 28a IfSG nicht mehr anwendbar. Zwar hat der Bundestag das Recht die nationale Pandemielage festzustellen und aufzuheben, es fehlte jedoch bisher an einer gesetzlichen Definition auf dessen Grundlage der Bundestag dies entscheidet. Diesem Missstand wird nun durch die Einführung einer Definition in § 5 IfSG begegnet. Danach liegt eine nationale Pandemielage vor, wenn die WHO eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite ausruft und die Einschleppung nach Deutschland droht oder eine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen Krankheit über mehrere Länder in Deutschland droht.
Während ihrer Dauer wird eine mündliche Berichtspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag eingeführt.
Wenn Bundesländer wegen lokal fortdauernden Infektionsgeschehen über die epidemische Lage von nationaler Tragweite hinaus Maßnahmen aus § 28a IfSG-E ergreifen, muss das durch die Landesparlamente beschlossen werden.
Für Reha-Einrichtungen wird steuerfinanziert ein finanzieller Ausgleich gezahlt, wenn sie infolge der Pandemie weniger Behandlungen vornehmen können.
Weiteren Veränderungsbedarf sehen wir in folgenden Bereichen:
Im Gesetzentwurf ist der Zusammenhang zwischen Infektionsgeschehen und möglichen Maßnahmen nach wie vor schwach. Die Maßnahmen werden nicht konkret bestimmten Schwellenwerten zugeordnet, sondern es wird lediglich zwischen „unterstützenden“, „breit angelegten“ und „umfassenden“ Maßnahmen unterschieden, die an den jeweiligen Inzidenzwerten anknüpfen.
In der Sachverständigenanhörung wurde vorgeschlagen, diese materielle Flexibilität durch Begründungspflicht und Befristungen der Rechtsverordnungen einzufangen. Das ist gelungen.
Wir hätten weitere Klarstellungen für sinnvoll gehalten, etwa dass das Kindeswohl noch stärkere Berücksichtigung findet, das ein Mindestmaß an sozialen Kontakten natürlich auch außerhalb von Heimen und Krankenhäusern möglich sein muss oder bei Kontakt- und Reisebeschränkungen Ehe, Partnerschaft und Familie. Die Begründungspflicht gegenüber dem Parlament ist nun enthalten, bleibt aber hinter unseren Erwartungen zurück.
Wir sprechen uns seit langem für die Einrichtung eines interdisziplinär besetzten wissenschaftlichen Pandemierates aus, um Empfehlungen für eine Strategie für die kommenden Monate sowie Konzepte für allgemeine und zielgruppenspezifische Präventions- Kommunikationsmaßnahmen entwickeln zu können. Die Chance, ein solches Gremium gesetzlich zu implementieren, hat die Koalition mit diesem Gesetz leider nicht genutzt.
Darüber hinaus hätten wir es für sinnvoll gehalten, wenn auch bei der Finanzierung der Tests ähnlich wie jetzt bei den Schutzimpfungen die private Krankenversicherung einbezogen worden wäre, statt einseitig weiterhin die kompletten Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu übertragen.
Wir brachten im Verfahren unsere Vorschläge auch mit zwei Anträgen ein.
In unserem Antrag "Rechtsstaat und Demokratie in der Corona-Pandemie" vom 4. November haben wir unsere Kritik am Entwurf der Bundesregierung dargelegt: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/239/1923980.pdf
An einigen wichtigen Stellen sind uns Verbesserungen gelungen, an anderen nicht. Deshalb haben wir zur Abstimmung im Plenum noch einen grünen Änderungsantrag zum Gesetz der Bundesregierung mit eingebracht: https://dserver.bundestag.de/btd/19/243/1924380.pdf
Wir sehen die Erarbeitung der Gesetzesgrundlagen als Prozess an. Dieses Gesetz kann nur ein erster Schritt sein. Etwa die Frage der Entschädigung bleibt auf der Agenda, auch die Frage des Pandemierats, der weitere Kriterien für die Messung des Infektionsgeschehens erarbeiten kann. Wir haben die Tür zu den parlamentarischen Beratungen aufgestoßen und befinden uns mit den Bundesländern weiter in Abstimmungen. Mit Sicherheit wird die Debatte am 18.11. im Plenum nicht die letzte zum Thema gewesen sein und ich hoffe, wir finden gute, ausgewogene Lösungen in der Pandemie und können an wichtigen Stellen weiter nachbessern.
Viele Grüße
Monika Lazar