Frage an Michael Bürsch von Chris M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Bürsch,
denken Sie, dass das Demokratieverständnis der Regierungsvertreter dieses Landes einmal soweit reichen wird, dass über eine freiwillige Mitgliedschaft in der IHK nachgedacht werden kann?
Ich frage deshalb, da gut 90 Prozent der heutigen Mitglieder ein Zwangssystem dieser Art grundsätzlich ablehnen, dieser Umstand aber regelmässig ignoriert wird.
Beste Grüsse
Chris Menne
Sehr geehrter Herr Menne,
danke für Ihre Mail. Ich persönlich finde Ihre Idee gut.
Für viele kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland sind die Industrie- und Handelskammern, in denen jeder Gewerbetreibende Mitglied sein muss, ein Hindernis. Während die Kammern in der Nachkriegszeit einen großen Beitrag zum Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft leisteten, der nur mit ihrer öffentlich-rechtlichen Organisationsform erbracht werden konnte, stellt gerade diese Organisationsform heute die Existenz der Kammern zunehmend in Frage.
Meines Erachtens sprechen vor allem folgende Aspekte gegen eine Zwangsmitgliedschaft in den IHK: Aufgrund der Dominanz der großen Unternehmen in den Kammergremien, ist es für kleine und mittlere Unternehmen häufig nur schwer möglich, sich an der Arbeit innerhalb der Kammer zu beteiligen. Die Hauptlast der Finanzierung der Kammern tragen aber gerade die kleinen und mittleren Unternehmen mit ihren Zwangsbeiträgen. Denn der Zwangsbeitrag berechnet sich nach der Höhe der Gewerbesteuer, und hiervon sind große Unternehmen befreit. Weit mehr als Dreiviertel der IHK-Mitglieder bemängelt dies.
Daneben ist die Tendenz zu beobachten, dass Industrie- und Handelskammern zunehmende selbst wirtschaftlich tätig werden und damit oft in Konkurrenz zu ihren eigenen Pflichtmitgliedern treten. Dies ist aber gemäß IHK-Gesetz nicht erlaubt.
Die wirtschaftspolitischen Debatten der Vergangenheit haben gezeigt, dass die gewerblichen Unternehmen in Deutschland selbst in existentiellen Fragen kein Gesamtinteresse mehr verbindet. Der Kreis der IHK-Mitglieder ist mittlerweile viel zu heterogen, um in wesentlichen Fragen den erforderlichen gemeinsamen Nenner definieren zu können. Das IHK-System ist - aufgrund der Dominanz der großen Unternehmen innerhalb der Kammern - gerade für innovative und Arbeitsplatz schaffende kleine und mittlere Unternehmen inzwischen zu einem Zwangskorsett geworden. Interessenvertretung durch freie Verbände ist hier eindeutig die bessere Lösung.
Die Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern stellt auch im europäischen Vergleich eine drastische Wettbewerbsverzerrung dar. Das Ziel der Europäischen Union ist es, einen einheitlichen Dienstleistungsmarkt zu schaffen, unter Sicherung der vertraglich garantierten Dienst- und Niederlassungsfreiheit und durch Abbau nicht zu rechtfertigender freiheits- und wettbewerbsfeindlicher Regelungen und Strukturen. Die Niederlassungsfreiheit wird dabei durch die Zwangsmitgliedschaft und deren Folgen erheblich beeinträchtigt. Hier kollidiert das IHK-Gesetz mit EU-Recht. Nach mittlerweile vorherrschender Rechtsauffassung schützt diese vor jeglicher Beschränkung. Der mit der Pflichtmitgliedschaft verbundene Eingriff in die Niederlassungsfreiheit kann hier nicht mehr übersehen werden.
Ein gemeinsamer Binnenmarkt setzt im wirtschaftsrechtlichen Bereich ein Höchstmaß an Harmonisierung voraus. Insbesondere in den nordeuropäischen EU-Mitgliedstaaten (Großbritannien, Irland, Finnland, Schweden, Dänemark, Belgien), aber auch in Portugal sowie in den nicht der EU angehörenden Ländern Schweiz und Norwegen hat sich ein System privatrechtlich organisierter Handelskammern bewährt. Allein im Hinblick auf eine weiter voranschreitende Harmonisierung ist ein Umbau des Kammersystems über kurz oder lang nicht zu vermeiden.
Trotz dieser schlüssigen Argumente war es bislang leider schwierig, im Parlament eine Mehrheit für eine Neuordnung des gesamten Industrie- und Handelskammerwesens - verbunden mit einer Umstellung von einer Pflicht- auf eine freiwillige Mitgliedschaft - zu finden. Dennoch halte ich eine solche Neuordnung für zeitgemäß und trete dafür ein.
Mit freundliche Grüßen
Michael Bürsch