Frage an Mechthild Rawert von Nils S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Rawert,
mit Erschrecken musste ich heute auf Netzpolizik.org einen Gesetzesentwurf lesen, der mein Recht auf Privatsphäre und mein Vertrauen in vom Volk gewählte Vertreter vernichten möchte.
Der Link zum Artikel und zum Gesetzesentwurf ist:
http://netzpolitik.org/2011/aktion-sprich-dich-gegen-die-vorratsdatenspeicherung-aus/
Ich kann einfach nicht verstehen wie Brief, Telefon und Wohnung mehr Schutz erfahren als meine persönlichen Schritte im Internet.
Ich würde gerne wissen ob sie darin mit mir überein stimmen.
Bitte schützen Sie meine digitalen Bürgerrechte, indem Sie den Gesetzentwurf ablehnen.
Mit freundlichen Grüßen,
Nils Schuth
Sehr geehrter Herr Schuth,
vielen Dank für Ihre Frage zum Thema Vorratsdatenspeicherung. Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung hat eine lange Geschichte, dessen Beginn eine Richtlinie der Europäischen Union darstellt, die umgesetzt werden musste. Die große Koalition folgte dem Umsetzungsauftrag und beschloss ein Gesetz, das im März 2010 vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft wurde. Das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Urteil fest, dass dem grundrechtlichen Schutz der informellen Selbstbestimmung nicht gerecht wurde, denn das Gesetz enthielt keine konkreten Maßnahmen zur Sicherung der Datensicherheit und die Hürden für den Abruf der Daten waren zu niedrig.
Da die Bundesrepublik Deutschland jedoch immer noch verpflichtet ist die EU-Richtlinie 2006/24/EG umzusetzen, setzt sich meine Fraktion dafür ein, dass eine grundsätzliche und offene Debatte über die Notwendigkeit und auch die Grenzen der Vorratsdatenspeicherung zu führen ist. Dabei ist auch zu klären, ob und wie eine Speicherung auf Vorrat grundrechtsschonend und verfassungskonform ausgestaltet werden könnte. Dabei ist die Überarbeitung der Umsetzungsvorgaben der EU-Richtlinie von zwingender Bedeutung. Nur so kann eine grundrechtskonforme Gesetzesgrundlage überhaupt zustande kommen.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert, wenn an der Vorratsdatenspeicherung festgehalten werden sollte, dass verfassungskonforme gesetzliche Regelungen notwendig sind, die eine Speicherung von Daten und den Zugriff auf diese durch den Staat regelt und mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vereinbar ist.
Bei der konkreten Fassung der Regelungen sollten folgende Anforderungen mit aufgenommen werden:
a. Der Abruf und die Nutzung der Verbindungsdaten darf nur bei Verdacht auf schwerste Straftaten erfolgen. Das sind insbesondere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung.
b. Als milderes und weniger eingriffsintensives Mittel kann eine Beauskunftung von IP Adressen geregelt werden. Dabei sollte ein Abruf innerhalb einer kurzen Frist von wenigen Tagen ab Speicherung zudem zum Zwecke der Verfolgung von Straftaten erfolgen können. Nach Ablauf dieser Frist darf der Datenabruf bis zur Löschung der Daten nur noch zur Verfolgung schwerster Straftaten erfolgen.
c. Für Berufsgeheimnisträger soll ein absolutes Verwertungsverbot gelten.
d. Der Abruf aller Verbindungsdaten soll unter Richtervorbehalt stehen.
e. Es ist eine Unterrichtungspflicht für die von einem Datenabruf Betroffenen aufzunehmen.Dies gebietet das Rechtsstaatsverständnis und entspricht im Übrigen den verfassungsrechtlichen Vorgaben.
f. Die Bestimmungen zum technischen Datenschutz müssen entsprechend den verfassungsgerichtlichen Vorgaben deutlich ausgebaut werden. Dazu gehören namentlicheine getrennte Speicherung, die sichere Verschlüsselung von Daten, das Vier-Augen-Prinzip verbunden mit fortschrittlichen Verfahren zur Authentifizierung für den Zugang zu den Schlüsseln und eine revisionssichere Protokollierung von Zugriff und Löschung.
g. Eine effektive Kontrolle muss gewährleistet werden, Verstöße müssen wirksam sanktioniert werden.
h. Eine Nutzung der Daten darf ausschließlich für strafrechtliche, nicht für zivilrechtliche Auskünfte erfolgen.
Eine unterschiedliche Behandlung von IP-Adressen und anderen sensiblen Daten ist bereits im genannten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung angelegt, ergibt sich aber auch aus der Eingriffstiefe und Sensibilität der Daten. Mit Telefon- und E-Mail-Verbindungsdaten lassen sich umfangreiche Nutzungs- sowie Kommunikationsprofile und mit Mobilfunkdaten zusätzliche Bewegungsprofile erstellen. Eine viel geringere Eingriffstiefe hat jedoch die Speicherung der Zuordnung von IP-Adressen zu Anschlussinhabern bei Internetverbindungen. Anders als vielfach behauptet ist damit keine komplette Überwachung des Surfverhaltens der Nutzer möglich. Im Gegensatz zur Durchführung einer gezielten Telekommunikationsüberwachung kann damit nicht festgestellt werden, welche Webseiten ein Internetnutzer aufgerufen hat. Es ist ausschließlich möglich, im Nachhinein nach einer konkreten Straftat bei Kenntnis der IP-Adresse den Anschlussinhaber herauszufinden. Die Sorge einer Totalüberwachung der Bevölkerung ist daher im Gegensatz zur Speicherung von Handy- und E-Mail-Daten unbegründet. Bei mit Hilfe des Internets begangenen Straftaten ist die IP-Adresse oftmals die einzige verwertbare Spur. Daher ist der Wunsch der Ermittlungsbehörden nachvollziehbar, dieses Ermittlungsinstrument nutzen zu können. Dennoch sollten die Transparenzpflichten erhöht und die Speicherfristen auf ein Maß verkürzt werden, das auch vor der Vorratsdatenspeicherung jahrelang üblich war.
Eine große Angst in der Bevölkerung ist, dass die Speicherung von IP-Adressen weiter zu Massenabmahnungen bei der Nutzung von P2P-Tauschbörsen führt. Allerdings sind diese Abmahnungen auch ohne Speicherung der IP-Adressen durch Echtzeitabfragen oder entsprechende Speicheranforderungen („Quick Freeze“) möglich.
Ich befürchte allerdings, dass durch die Anschläge in Norwegen eine emotionslose und sachliche Debatte zumindest erschwert werden wird. Denn bereits einen Tag nach den Anschlägen waren in Deutschland die Rufe nach der Vorratsdatenspeicherung wieder laut und vernehmlich zu hören. Die Befürworter der Vorratsdatenspeicherung glauben, dass sie mit der massenhaften Speicherung der Daten solche Taten verhindern könnten. Das würde allerdings bedeuten, dass die Sicherheitsbehörden jederzeit Zugriff auf alle Daten jedes Bürgers hätten und diese auch zeitnah auswerten würden. Dies ist nicht nur unrealistisch, sondern auch verfassungswidrig.
Eine Vorratsdatenspeicherung mag für die Sicherheitsbehörden zur Aufklärung von Straftaten und zur Beweisführung vor den Strafgerichten sinnvoll sein, jedoch kann dieses Interesse nicht vor dem Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung stehen.
Ich bin gespannt wie sich die parlamentarische Debatte entwickeln wird. Eine Zustimmung zum Gesetz mache ich jedenfalls von der Respektierung der Grundrechte abhängig.
Mit freundlichen Grüßen
Mechthild Rawert