Martina Michels
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Frage von Günter S. •

Frage an Martina Michels von Günter S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Michels,

es ist immer wieder von einem Defizit der EU hinsichtlich Demokratie und Legitimität zu hören und zu lesen. Dieser Vorwurf dürfte Ihnen nicht unbekannt sein.

Wo sehen Sie Demokratie- und/oder Legitimitäts Defizite? Beziehen Sie in die Beantwortung bitte alle zentralen Organe der EU (Rat, Parlament, Kommission, Parlamente der Mitgliedsstaaten) mit ein.

Meine Frage ist dreigeteilt:
1. Was sind nach Ihrer Auffassung und Ihrem Insiderwissen wirklich die schwerst wiegendsten Defizite?
2. Welche Verbesserungen hinsichtlich der Aufarbeitung solcher Defizite erwarten Sie für die kommende Legislaturperiode des EU-Parlaments?
3. Mit welchem Einsatz und an welchen konkreten Punkten werden Sie sich in der nächsten Legislaturperiode für den Abbau solcher Defizite einsetzen?

Mit freundlichen Grüßen
Günter Sölken

Martina Michels
Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Sölken,

vielen Dank für Ihre Fragen.

Zu 1:

Ich sehe Demokratie-, Transparenz und Legitimationsdefizite in verschiedenen Bereichen:

Wir leben derzeit in einer EU der Regierungen und nicht der Bürgerinnen und Bürger. Leider wird die EU-Politik fast ausschließlich durch Verhandlungen der jeweiligen nationalen Regierungen bestimmt und nicht durch parlamentarische Prozesse. Die Regierungen der Mitgliedstaaten versuchen dabei oft, im eigenen Land ungeliebte, politisch schwer durchsetzbare oder aus rechtlichen Gründen unrealistische politische Entscheidungen über die europäische Ebenedurchzusetzen. (im EU- Ministerrat und mit Hilfe der EU-Kommission) Dann wird erklärt, das habe "die EU" so beschlossen und man könne dagegen eben nichts tun. Das führt nicht nur zu mehr Intransparenz und gefühlter Ohnmacht gegenüber der EU-Politik, es ist auch noch gelogen.

Es mangelt an direkter Demokratie und Einflussnahme durch Volksentscheide oder Formen der Bürgerbeteiligung.

Das Europäische Parlament als einzige vom Volk gewählte EU-Institution hat noch immer nicht alle für ein demokratische Funktionieren notwendigen Befugnisse: Das Recht auf Rechtsetzungsinitiativen ist nur im Ansatz vorhanden. Die EU-Kommission unterliegt nicht vollständig der parlamentarischen Kontrolle durch das Europäische Parlament, wie dies bei den Regierungen der Mitgliedstaaten durch die jeweiligen nationalen Parlamente der Fall ist. Kürzungsprogramme untergraben die Fähigkeiten demokratischer Kontrollorgane.

Problematisch ist zudem, daß der Rat der Minister der EU-Mitgliedstaaten und die EU-Kommission auch noch massiv von Lobbyisten der Banken und Konzerne beeinflußt. Aktuell wird dies besonders am Beispiel der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen zwischen EU und USA (TTIP) deutlich:

Hinter verschlossenen Türen verhandelt die EU-Kommission mit Vertretern der USA. In Aussicht gestellt werden mehr Wohlstand, mehr Jobs und höhere Löhne. Aber allein die Tatsache, daß geheim verhandelt wird, zeigt, hier stimmt was nicht. Die Details des Abkommens bleiben für Umweltverbände, Gewerkschaften und die Öffentlichkeit im Dunkeln. Auf der anderen Seite bekommen über 600 Wirtschaftslobbyisten Zugang zu den TTIP-Dokumenten und formulieren die Texte in einem geschlossenen Verfahren.

Gerade wenn es um Legitimität geht - also auch um Akzeptanz politischer Entscheidung, dann wäre es nötig, die alltäglichen Interessen der Menschen stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Für uns sind das vor allem auch soziale Fragen, die viel mit öffentlicher Daseinsvorsorge - also z. B. Bildung, ÖPNV, Kultur, Gesundheit, Energie oder Wasserversorgung - zu tun haben. Privatisierung solcher Leistungserbringung bedeutet leider oft: weniger Demokratie und Teilhabe. Denn schlechtere oder teurere Versorgung heißt eben weniger Teilhabe an diesen Gütern und am gesellschaftlichen Leben insgesamt. Und gleichzeitig verschwindet mit Privatisierung auch die politische und gesellschaftliche Einflußmöglichkeit.

Die EU benötigt für einen Politikwechsel eine andere vertragliche Grundlage: eine EU-Verfassung, die von den Bürgerinnen und Bürgern mitgestaltet wird und über die zeitgleich in jedem EU-Mitgliedstaat in einem Referendum abgestimmt werdenmuß. Demokratie, Sozialstaatlichkeit, Frieden und Rechtsstaatlichkeit müssen gleichrangige verfassungsrechtliche Werte und Ziele der EU sein.

Zu 2 und 3:

Als Politikerin der LINKEN trete ich für die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments ein, das endlich gleichberechtigt mit dem Europäischen Rat entscheidet. Dazu ist ein eigenständiges, vertraglich gesichertes Initiativrecht für Gesetzgebungsvorhaben erforderlich und generell die Ausweitung der Rechte des EP: Sobald ein Politikbereich in die Kompetenz der Europäischen Union überführt wird, muss das Parlament ein Mitentscheidungsrecht erhalten. Für die bereits vergemeinschafteten Bereiche ist dies nachzuholen. Auch das Vorschlags- und Wahlrecht bezüglich der Mitglieder der Europäischen Kommission und deren Präsidenten sollte das Parlament erhalten.

Demokratie bedeutet aber mehr, als alle vier oder fünf Jahre Wahlen abzuhalten. Demokratie bedeutet, dass alle Menschen in der Europäischen Union an den Entscheidungen auf EU-Ebene beteiligt werden, die für sie bindend sind. Deshalb müssen endlich Formen der direkten Demokratie auf EU-Ebene etabliert werden, die bürgerfreundlich und wirksam zugleich sind: Wir wollen, dass Bürgerinnen und Bürger in der EU das Recht erhalten, über Volksentscheide konkrete EU-Politik mitzugestalten. Über Änderungen der EU-Verträge sollten die Bürgerinnen und Bürger in der gesamten EU mittels Volksentscheid am gleichen Tag können.

Die Bestimmungen zum Wahlrecht und das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt sollten für alle gelten, die ihren Lebensmittelpunkt in einem EU-Mitgliedstaat haben, auch wenn sie als Mensch mit Behinderungen unter voller Betreuung stehen. Abgeordnete anderer nationaler Parlamente der EU bzw. des Europäischen Parlaments auf Einladung einer Fraktion bei zentralen europäischen Themen im Bundestag sprechen dürfen - und umgekehrt.

Wir fordern die Ratifizierung der internationalen Übereinkommen zur Bekämpfung des Lobbyismus. Auf EU-Ebene wollen wir die Pflicht zur die Kenntlichmachung der Beteiligung von Interessenverbänden, Unternehmen und sonstigen privaten Akteuren bei der Vorbereitung von Akten der europäischen Rechtsetzung (»legislativer Fußabdruck«) in den dem Europäischen Parlament zugeleiteten Entwürfen für EU-Richtlinien und -Verordnungen erreichen. Es muß offengelegt werden, wo Lobbyisten in den Expertengruppen sitzen. Ihr Einfluß auf die Europäische Kommission muß zurückgedrängt werden.

Wir setzen uns weiter für die Stärkung der zivilgesellschaftlichen Akteure auf europäischer Ebene ein. Dies schliesst sowohl verbindliche Anhörungs- und andere Rechte im Europäischen Parlament und anderen EU-Institutionen wie auch eine angemessene finanzielle Unterstützung aus dem EU-Haushalt ein. Die europäische Bürgerinitiative nutzen und stärken wir als ein erstes Instrument direkter Demokratie, auch indem wir Forderungen von europäischen Bürgerinitiativen im politischen Alltagsgeschäft aufgreifen.

Nebenverdienste von Abgeordneten sollten auf Euro und Cent zu veröffentlicht werden.

Eine neue EU-Verfassung kann nur von und mit den Menschen in Europa entstehen. Deswegen tritt DIE LINKE für einen neuen Konvent ein, in dem Vertreterinnen und Vertreter der Regionen der EU gleichberechtigt und gemeinsam die Grundlagen der EU diskutieren, einen Entwurf für eine Verfassung der Europäischen Union erarbeiten und diesen den Institutionen der Union und den Menschen in ihr zur Abstimmung vorlegen.

Mit freundlichen Grüßen,

Martina Michels