Sehen Sie die Entstehung einer „neuen ostdeutschen Identität“?
Dirk Oschmann‘s Buch „Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ wurde rasch zum Bestseller und traf offenbar einen Aspekt, den weit mehr Menschen beschäftigt als offiziell eingeräumt wird. Insbesondere der Ukrainekrieg bzw. die Reaktion der deutschen Politik darauf, beschleunigte den Prozess der Bildung einer neuen ostdeutschen Identität. Wie positionieren Sie sich zum Thema ostdeutsche Identität? Gibt es so etwas überhaupt? Falls doch, wäre etwas mehr Autonomie für die ostdeutschen Bundesländer ein politisches und wirtschaftliches Ziel? Letztlich um den Mehrheitsverhältnissen in der ostdeutschen Bevölkerung gerecht zu werden und den spezifischen gesellschaftlichen Interessen Gehör zu verschaffen? Bildung, Gesundheitsfürsorge, Gleichberechtigung, Militarisierung, Verfassung etc. sind Themenfelder, auf denen beim Anschluss der neuen Bundesländer entscheidende Fehler gemacht wurden. Bestätigen Sie einen solchen Prozess? Falls ja, wie wollen Sie darauf reagieren?
Ich denke, dass eine solche Identität durchaus besteht. Die wirklich zu klärende Frage ist doch, ob das neu ist oder warum das der Fall ist.
Wir haben mit Staatsminister Carsten Schneider auf Bundesebene einen "Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland". Im Zuge seines Wirkens wird einmal jährlich ein "Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit" und der "Bericht des Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland" herausgegeben und im Plenum debattiert. Die Frage ist doch, ob ein "Ostbeauftragter" überhaupt noch zeitgemäß ist, um die realen Probleme wie ökonomische und auch soziale Ungleichheit zwischen Ost und West nur Jahr für Jahr wieder aufzurollen statt sie konsequent anzugehen.
Ein jährlicher "Bericht zum Stand der Deutschen Einheit" löst genau die Ungerechtigkeiten, die es zweifellos noch immer gibt, nicht, er befeuert nur die Bildung einer "ostdeutschen Opferrolle". Konkretes Handeln statt Reden muss hier das Ziel sein.
Wir dürfen nicht mehr nur darüber reden, wie „der Osten“ aufholt. Wir dürfen nicht mehr nur darüber reden wie „der Osten“ sein soll. Sondern wir sollten viel mehr darüber diskutieren, wie „der Osten“ sein will. Und wir müssen diese Diskussion auch zulassen und voranbringen! Das bedeutet nicht, dass wir an den Grundpfeilern unseres Grundgesetzes rütteln. Und die Mehrheit der Ostdeutschen hat daran auch kein Interesse. Aber ohne eine Möglichkeit der Selbstfindung bleibt in der Debatte für viele dann doch die "ostdeutsche Opferrolle" bestehen. Davon müssen wir uns dringend lösen.