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Martin Gerster
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Frage von Matthias M. •

Frage an Martin Gerster von Matthias M. bezüglich Soziale Sicherung

S.g.H.Gerster,
sind Ihnen Informationen bekannt, daß unser globalisiertes Wirtschaftssystem, der technische Fortschritt und Automatisierung eine strukturelle Arbeitslosigkeit in der derzeitigen Höhe bedingt? Haben Sie das Buch von Götz w. Werner über ein Grundeinkommen für alle gelesen?
Werden sie die darin enthaltenen Ideen der Fraktion empfehlen?
Ihr Kollege Ahaus liegt mit seinen Vorschlägen auf der gleichen Wellenlänge!
mfG M. Müller

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Antwort von
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Sehr geehrter Herr Müller,

für Ihre beiden Fragen danke ich Ihnen herzlich und möchte zunächst diejenige zum Thema "Grundeinkommen" beantworten:

Das Buch von Herrn Werner ist allen Abgeordnetenbüros hier in Berlin zugegangen und ich habe mir - im Rahmen meiner Möglichkeiten – die Zeit genommen, mich mit seinen Ideen auseinanderzusetzen. Mit Vorschlägen zur Umsetzbarkeit eines Grundeinkommens beschäftigen sich Politiker und Wissenschaftler übrigens schon seit langem. So gesehen stellt das Buch von Herrn Werner nur ein weiteres Glied in einer Ideenkette dar, die sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.

Vieles von dem, was Herr Werner schreibt, hat auf den ersten Blick seinen Reiz. Schließlich verspricht die Idee des Grundeinkommens – oder des „Bürgergeldes“, wie es Thüringens CDU-Ministerpräsident Dieter Althaus gefordert hat – eine ganze Menge Wünschenswertes: Eine gesicherte Existenz für jeden, die Befreiung vom Zwang zur Arbeit, den Abbau staatlicher Bürokratie. Auch wäre es sicherlich überaus populär, das Arbeitslosengeld („Hartz IV“) abzuschaffen.

Als Politiker trage ich jedoch Verantwortung und muss mir zunächst die Frage stellen: Wie realistisch sind die an das Grundeinkommen geknüpften Versprechungen? Die zweite Frage stelle ich mir vor allem als Sozialdemokrat: Wie gerecht bzw. solidarisch sind solche Überlegungen eigentlich?

Schauen wir uns zunächst einmal die Prämissen an, von denen Herr Werner ausgeht: Das Recht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen leitet er aus der grundgesetzlich festgelegten Menschenwürde ab, die er über die physischen Grundbedürfnisse (Essen, Kleidung, Wohnung) hinaus durch eine angemessene Teilhabe am politischen und kulturellen Leben definiert. Ein solches Leben sieht er gegenwärtig an Erwerbsarbeit oder die aus einer solchen Beschäftigung resultierenden Versorgungsansprüche (Rente etc.) geknüpft.

Unser gesellschaftlicher Fortschritt sei so weit gediehen, dass Vollbeschäftigung aufgrund der anhaltenden Automatisierung illusionär sei. Somit seien viele Menschen grundsätzlich von der Möglichkeit zur Teilhabe an der über Arbeit definierten Gesellschaft ausgeschlossen. Stattdessen gelte es, den erwirtschafteten Wohlstand unabhängig vom Faktor Arbeit zu verteilen.

Nach Götz W. Werner sollte der Staat jedem Bürger ein Grundeinkommen zahlen, dessen Höhe je - nach Modell - zwischen 800 und 1500 Euro liegt. Unabhängig davon, ob der oder die Betreffende arbeitet oder nicht. Zur Gegenfinanzierung spart der Staat sämtliche sozialgesetzgeberische Maßnahmen und besteuert den gesellschaftlichen Konsum höher, um die wegfallenden Einnahmen aus der Lohnsteuer und den Sozialabgaben aufzufangen.

Schon bei den grundlegenden Annahmen beginne ich zu zweifeln. So gibt es meiner Ansicht nach gute Gründe, von der Vorstellung, es gäbe keinen Mangel mehr, Abstand zu nehmen. Was die Menge potentiell verfügbarer Güter und Dienstleistungen angeht, mag man Werner zustimmen. Gerade wenn man die Dimension qualitativ akzeptabler und nachhaltiger Produktionsmethoden mit einbezieht, stoßen die technisch umsetzbaren Produktionspotentiale schnell an ihre Grenzen, z.B. bei der ökologischen Landwirtschaft oder den Erneuerbaren Energien.

Am Ende stünde also eine Gesellschaft, in der alle Arbeit freiwillig ist und letztendlich der eigenen Selbstverwirklichung dient. Schlecht bezahlte und unangenehme Tätigkeiten würden in der Regel von Maschinen übernommen. Ich zweifle aber daran, dass in den gegenwärtig vom Sozialstaat getragenen Bereichen – zum Beispiel in der Kinderbetreuung oder der Alten- und Behindertenpflege – entsprechende Automatisierungsmöglichkeiten gegeben sind. Ein Teil würde dann natürlich von den Familienangehörigen geleistet, die nicht mehr zur Lohnarbeit gezwungen wären. Was sollten aber beispielsweise allein erziehende Eltern tun, die gerne arbeiten würden? Der einzige Ausweg wäre es, diese Tätigkeiten komplett zu privatisieren (dasselbe gilt übrigens auch das gesamte Versicherungswesen).

Mit den bekannten Risiken, wenn Gesundheit und Erziehung zu reinen Kostenfaktoren werden. Im Bereich der Gesundheitsfinanzierung verweist Werner auf die Notwendigkeit, einen „Betrag zu einer allgemeinen Gesundheitsversicherung“ dem Grundeinkommen zuzurechnen, der Gesundheitsrisiken „in einem noch zu definierenden Umfang (andere Baustelle!) absichert“ (S.112). Den pauschalen Verweis auf „andere Baustellen“ kann sich eine Politik, die sich selbst ernst nimmt, leider nicht leisten. Schon gar nicht angesichts der engen Zusammenhänge zwischen Arbeits-, Sozial und Gesundheitspolitik.

Das von Werner angestrebte Modell eines 1500 Euro Grundeinkommens – bei Althaus „Bürgergeld“ liegt der angestrebte Satz übrigen unter den bei „Hartz IV gängigen 700 € – würde schätzungsweise staatliche Aufwendungen in Höhe von mehr als 1,5 Billionen Euro verschlingen. Das wäre das Doppelte aller heutigen Sozialausgaben. Wenn diese Finanzierungslücke durch höhere Steuern auf Konsum ausgeglichen werden soll, würde dies zu einem massiven Preisanstieg führen, der Teile des Grundeinkommens gleich wieder auffressen würde. Über die Folgen für das Verbraucherverhalten lässt sich nur spekulieren: Wer würde nicht über die Grenze einkaufen fahren, wenn die Preise dort um ein Fünftel niedriger wären? Beispiele wie der zeitweise grassierende Benzintourismus in Grenzräumen bieten hier ausreichend Anlass zur Skepsis.

Ein weiterer Punkt hängt mit der Struktur der von Ihnen angesprochenen Sockelarbeitslosigkeit zusammen. Gerade dort, wo wir es mit Langzeitarbeitslosigkeit zu tun haben, würde ein Grundeinkommen keines der vorhandenen sozialen und psychologischen Probleme lösen, durch die viele der betroffenen Menschen in gesellschaftlicher Stagnation verharren. Das gibt Werner sogar selbst zu: „Die chronischen Faulpelze, die mental und emotional Gelähmten, sind ein Kultur und Bildungsproblem und ein Resultat mangelnder gesellschaftlicher Fürsorge“ (S.110). Mir erscheint es jedoch höchst problematisch, sein Grundeinkommen mit den Geldern für diese Fürsorgeleistungen finanzieren zu wollen. Durch das Grundeinkommen würden besser Verdienende genauso gefördert werden wie die Schwächsten und Bedürftigsten. Wie sollen von einem System, dass sich vom Prinzip der sozialen Gerechtigkeit verabschiedet, aktivierende Impulse ausgehen?

Schließlich ist zu überlegen, was das Grundeinkommen für die Unternehmenskultur in unserem Land bedeuten würde. Besonders für die Beschäftigten in den unteren Lohngruppen würde das Bürgergeld eher dazu führen, dass ihr innerbetrieblicher Einfluss schwindet, da die Ersetzung dieser Arbeitsplätze quasi zum Programm erhoben würde. Werner wünscht sich einen flexibilisierten Arbeitsmarkt, auf dem sich Unternehmen nicht mehr gezwungen wären, „sich mittels vielfach abgesicherter Arbeitsverträge an einen Mitarbeiter zu ketten“ (192 f.). Die Abschaffung der Unternehmensbesteuerung interpretiert er als Schritte auf dem Weg zur „Steueroase und zum Arbeiterparadies“ (S.193). Gehen wir aber von einem Arbeitnehmer aus, der sich steigenden Preisen, einer minimierten sozialen Absicherung und praktisch fehlendem Kündigungsschutz gegenübersieht, wird es auf dem „Unabhängigkeitssockel“ (ebd.) des Grundeinkommens schnell sehr ungemütlich.

Immer wieder wird ja beklagt, die heutige Politik sei ohne jede Vision und in den Zwängen der Routine gefangen. Und tatsächlich ist es ebenso schwierig wie notwendig, alternative Gesellschaftskonzepte zu ersinnen, die langfristigen den ökologischen, sozialen und ökonomischen Notwendigkeiten gerecht werden. Ansätze, wie sie sich in der Diskussion um das Grundeinkommen zeigen, erachte ich grundsätzlich als wertvoll und inspirierend. Ich hoffe Ihnen jedoch deutlich gemacht zu haben, warum ich nicht glaube, dass den von Ihnen angesprochenen Ideen die Zukunft gehört.

Mit freundlichen Grüßen

Martin Gerster

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