Frage an Martin Gerster von Robert V. bezüglich Finanzen
Sehr geehrter Herr Gerster,
Sie sind Mitglied im Finanzausschuss. Mein Frage ist komplex aber sehr spannend und ich hoffe auf eine baldige Antwort von Ihnen.
Die seit Jahren in Medien und Politik präsente Diskussion zur Staatsverschuldung arbeitet häufig mit dem vorwurfsvollen Argument, diese Generation würde unzulässig hohe Staatsschulden an die nächste Generation "vererben". Man würde "auf Kosten der nächsten Generation leben". Geht das?
Dieses Argument suggeriert, als habe der Staat, also die gesamte Gesellschaft seine/ihre Schulden bei irgendeiner "äußeren Macht", die die nächste dann völlig überschuldete Generation dann quasi pfänden, ausquetschen o. ä. würde. Hier wird offenbar auch mit "Angst" gearbeitet, um politische Vorstellungen durchzusetzen. Aber wo Schuldner sind, sind stets auch Gläubiger! Und da offenbar fast alle westlichen Staaten (die der dritten Welt sowieso) hoch verschuldet sind, sind offenbar große Institutionen (z. B. Banken und Versicherungen, die wiederum irgendjemandem (z. B. Aktionären) gehören!) und die Bürger selbst die Gläubiger.
Das heißt aber auch, dass "wir" (die Gesellschaft) der nächsten Generation nicht nur Schulden, sondern auch Forderungen "vererben". Man könnte auch sagen, wir vererben eine Verteilung vermeintlicher Guthaben und Schulden. Ich schreibe vermeintlich, weil ich mich auch ernsthaft frage, ob dieses Geld überhaupt existiert, jemals existiert hat. Letztlich sprechen wir von Versprechungen, von mit Tinte bedrucktem Papier. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will das Thema nicht lächerlich machen. Aber wurde vor 20 Jahren noch über Millionen gesprochen, gehts jetzt nicht mehr unter zig Millarden. Das wird langsam alles sehr unglaubwürdig und absurd.
Ist es also richtig, dass wir eigentlich gar keine Schulden weitergeben (weil das eine verkürzte Darstellung ist), sondern nur eine fiktive Verteilung von Forderungen? Haben Sie darüber eigentlich schon mal nachgedacht?
Mit besten Grüssen
Robert V.
Sehr geehrter Herr Veltmann,
vielen Dank für diese Frage, die in der Tat eine ganze Reihe von volkswirtschaftlichen Zusammenhängen berührt, deren differenzierte Abhandlung die Wissenschaft seit langem beschäftigt und sehr schwer auf engem Raum darzulegen ist. Auch bin ich mir - ehrlich gesagt - nicht ganz sicher, ob ich wirklich den Punkt verstanden habe, auf den Sie abzielen. Da Sie mich aber um eine schnelle Antwort bitten, will ich mein Bestes versuchen, Ihrem Anliegen gerecht zu werden.
Ich gebe Ihnen recht, dass das gerne benutzte Bild von der „Vererbung von Staatsverschuldung“ der Komplexität des Problems nicht gerecht wird - zumindest dann, wenn es nicht näher erläutert wird. Zunächst einmal ist Verschuldung nicht gleich Verschuldung. Denn es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob ein Staat in erster Linie gegenüber dem Ausland, innerhalb oder außerhalb eines gemeinsamen Währungsraums, oder primär gegenüber Gläubigern aus dem eigenen nationalen Wirtschaftsraum verschuldet ist. Warum?
Weil die Entwicklung von Staatsschulden Rückwirkungen hat auf die Stabilität der Währungen (Stichwort: Konvergenzkritierien der Euro-Zone) , die realwirtschaftliche Entwicklung, z.B. durch Verdrängung privater Investitionen durch staatliche Aktivitäten (Stichwort: Crowding-out-Effekte), und letztlich auch staatliche Handlungsspielräume (Nettokreditaufnahme darf z.B. im Bundeshaushalt nicht höher als die Investitionen sein) beeinflusst, die vom Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der Staaten als Schuldner abhängen. Grundsätzlich existieren Kredite, um kurzfristige Ausgaben vornehmen zu können, die
a) unausweichlich sind und aus eigenen Mitteln zum fraglichen Zeitpunkt nicht möglich wären,
b) oder die der Kreditnehmer zwar aufschieben könnte, sich aber langfristig mehr Profit verspricht, als möglich wäre, wenn er die entsprechenden Ausgaben erst später tätigen würde.
Der Kreditgeber verzichtet einstweilen auf die Möglichkeit, mit seinen Mitteln eigenständig zu wirtschaften und riskiert, sein Geld möglicherweise nicht (oder nur teilweise) wiederzusehen, wenn der Kreditnehmer zum vereinbarten Zeitpunkt nicht in der Lage ist, seine Schuld zu begleichen. Als Ausgleich für den einstweiligen Verzicht und das Risiko wird ein Zins vereinbart, der nach einer gewissen Laufzeit und eventuell in Raten zurückgezahlt wird.
Auch Staaten tendieren dazu, Ausgaben der Gegenwart auf Kosten zinsbelasteter zukünftiger Zahlungsverpflichtungen zu begleichen. Die Akzeptanz der entsprechenden „Abmachungen“ (zum Beispiel in Form von Staatsanleihen etc.) hängt stark vom Vertrauen der Gläubiger ab, ihr verliehenes Geld irgendwann wiederzusehen und sich sicher sein zu können, durch das Verleihen einen vergleichsweise „guten Schnitt“ zu machen. Hier kommt das Problem der Geldwertstabilität ins Spiel, das eng mit der Frage der Geldmenge zusammen hängt. In einem gemeinsamen Währungsraum - wie der Euro-Zone - liegt die Geldmengensteuerung nicht mehr in der Hand der Nationalstaaten. Dennoch wirtschaften diese für sich selbst und gehen Kreditversprechen in Form von Staatsverschuldung ein.
So kann es beispielsweise passieren, dass ein Staat, der das Vertrauen der anlagebereiten Kreditgeber verliert, sehr hohe Zinsen zahlen muss, wenn er Geld leihen will - man denke nur an Griechenland. Oder dass eine Währung, deren Stabilität als gefährdet angesehen wird, für Kreditgeber unattraktiv erscheint, weil die vereinbarten Zinszahlungen bei kurzfristiger und massiver Geldentwertung (Inflation) nicht mehr den relativen Wertverlust der an falscher Stelle eingesetzten Mittel rechtfertigen könnten. In beiden Fällen können die Folgen für ein Gemeinwesen oder einen Währungsraum drastisch sein.
Nun sind wir bei der „Vererbung“ von Schulden angekommen. Der Staat ist ja beständig damit beschäftigt, alte Schuldverträge unterschiedlicher Laufzeit zu erfüllen, während er gleichzeitig neue aufnimmt. Deshalb geht es im deutschen Haushaltsrecht auch um die „Nettokreditaufnahme“, die - grob gesagt - neu aufgenommene Schulden mit abgezahlten Verpflichtungen verrechnet. Eine steigende Nettoneuverschuldung bedeutet: Auch wenn sich die Konditionen und die Zusammensetzung der Geldgeber ändern mag, wächst die Gesamtschuld des Staates. Die Summe der zu zahlenden Zinsen wächst somit auch und die Spielräume für staatliches Handeln sinken. Die einzige Möglichkeit, diesem Kreislauf zu entkommen, sind (unter der Voraussetzung relativer Geldwertstabilität) zukünftige Ausgabenkürzungen oder Einnahmeerhöhungen.
Konkret: Werden Sozialleistungen von heute durch Schulden finanziert, werden diese Ausgaben in Zukunft mit Steuererhöhungen oder Leistungskürzungen wieder kompensiert werden müssen. Ob dies tatsächlich erst „in Generationen“ notwendig ist hängt indes von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, die ich darzulegen, hier versucht habe.
Sicherlich stehen den Schulden auch Forderungen gegenüber, von denen bestimmte Anlegerkreise (auf Kosten der Steuerzahler als Geldgeber der öffentlichen Hand) profitieren. Diese müssen aber erstens nicht im eigenen Land/Wirtschaftsraum ansässig sein und es ist überdies fraglich, inwiefern sie mit ihrem Zinseinkommen zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen. Auch bei einer starken Inlandsverschuldung der öffentlichen Hand dürften vor allem kapitalstarke Investoren (und deren Hauptanteilseigner) überproportional vom Schuldendienst profitieren, was tendenziell zu einer Umverteilung „von unten nach oben“ beiträgt.
Sie fragen nun, ob das vom Staat verliehene „Geld“ überhaupt existiert. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns vor Augen halten, was Geld eigentlich ist. Im Grunde handelt es sich nämlich um nichts anderes als ein Tauschwertversprechen, das einem Kredit durchaus ähnlich ist. Geld erhält seinen Wert im Prinzip durch den Glauben, zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen bestimmten Betrag an Geldeinheiten einen bestimmten Gegenwert erwarten zu können. Insofern reicht es auch, wenn ein Großteil unseres Geldes nur in Form von verbuchten Versprechungen („Giralgeld“) und nicht in Scheinen und Münzen existiert.
Lassen Sie mich also auf Ihre Frage zurück kommen, inwiefern Staatschulden nur eine „fiktive Verteilung von Forderungen“ darstellen: So „virtuell“ sich die primär in Form von Buchgeld gehandelten Geldmengen, durch die Staatsverschuldung abgewickelt wird, auch gestalten mögen - sie verweisen durchaus auf realisierbare Schuldverhältnisse und haben realwirtschaftliche Konsequenzen.
Eine lesenswerte Einführung in die Theorie und Praxis des Geldwesens finden Sie übrigens unter
http://www.bundesbank.de/download/bildung/geld_sec2/geld2_gesamt.pdf
Ich hoffe, Ihnen mit diesen Ausführungen weitergeholfen zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Martin Gerster