Frage an Maria Flachsbarth von Marcus K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
"Demokratie" bedeutet bekanntermaßen die Herrschaft durch das Volk, also auch die Entscheidungsfindung durch das Volk. Würden Sie sich in der kommenden Legislaturperiode für mehr Volksentscheide stark machen?
Sehr geehrter Herr K.,
vielen Dank für Ihre Nachricht vom 2. August 2017 via abgeordnetenwatch.de, in der Sie sich nach meiner Meinung zu Volksentscheiden erkundigen. Obwohl es eine Reihe guter Gründe für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Volksentscheiden gibt, überwiegen meiner Meinung nach die Bedenken.
Aus der Sicht einiger renommierter Staatsrechtler sprechen zunächst verfassungsrechtliche Erwägungen gegen die Zulässigkeit einer Volksabstimmung auf Bundesebene. Die Einführung von Volksabstimmungen würde einer Verfassungsänderung bedürfen. Art. 20 Abs. 2 GG verankert die Prinzipien der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie. Über Art. 79 Abs. 3 GG genießen sie einen besonderen Schutz. Nach dieser "Ewigkeitsklausel" ist eine Änderung der in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze unzulässig. Ich schließe mich dieser Meinung an.
Für die Befürworter der Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene zählt jedoch lediglich der Grundsatz der Demokratie zu den in Art. 20 Abs. 2 GG verankerten Grundsätzen. Daher würde die Ausweitung der plebiszitären Elemente wohl nicht an Art. 79 Abs. 3 GG scheitern. Jedoch ist hierfür eine verfassungsändernde Mehrheit nötig.
Die Frage der bundesweiten Volksentscheide hat den Deutschen Bundestag bereits mehrfach beschäftigt. Allen Initiativen gemeinsam ist jedoch, dass die nötige Mehrheit im Parlament nicht gefunden wurde. Vielfach wird vorgebracht, dass die Ausweitung plebiszitärer Elemente der Zielsetzung des Grundgesetzes entspräche. Ich bestreite das, denn dies war gerade nicht der Wille des Verfassungsgebers. Im Grundgesetz fehlt - im Gegensatz zum genau geregelten Gesetzgebungsverfahren durch Bundestag und Bundesrat - ein Verfahren zur "Volksgesetzgebung". Das spricht dafür, dass Art. 29 GG, der eine Volksabstimmung, Volksbegehren und Volksbefragungen im Rahmen der Neugliederung des Bundesgebietes - und dann aber nur auf Länderebene zulässt, der einzige Fall in der Verfassung ist und auch bleiben soll, der eine Volksabstimmung zulässt.
Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zeigt, dass der Parlamentarische Rat einer Ausweitung der Möglichkeiten zu Volksabstimmungen im Grundgesetz zurückhaltend gegenüberstand. Die Erfahrungen mit plebiszitären Elementen in der Weimarer Republik haben zu einer Zurückhaltung der Väter und Mütter des Grundgesetzes geführt, Volksabstimmungen und Volksinitiativen als grundsätzliche "Gesetzgebungsinstrumente" vorzusehen. Mit gutem Erfolg! Unser System der repräsentativen Demokratie ist der wichtigste Grund für über 60 Jahre politische Stabilität in Deutschland - und damit auch wesentlicher Rahmen für die positive wirtschaftliche Entwicklung. Die Gemeinsame Verfassungskommission nach der Wiedervereinigung hat diese Auffassung bestätigt.
Die Gesetzgebung wird immer komplexer und ihre teilweise fast unüberschaubare Vernetzung mit anderen Regelungsbereichen macht eine "Ja" oder "Nein"-Alternative schwierig. Ob eine direkte Beteiligung der Bürger die bessere Gesetzgebung hervorbringt, ist daher fraglich. Das Verfahren im Deutschen Bundestag ist ein "lernendes Verfahren". Drei Lesungen, Ausschussberatungen, Sachverständigenanhörungen und Berichterstattergespräche stellen ein ausgewogenes und faires Verfahren sicher. Unterschiedliche Interessenlagen - gerade auch die von Minderheiten - können berücksichtigt und entsprechend gewichtet werden. Die Interessen der Länder werden gesondert berücksichtigt. Bei Volksentscheiden ist ein derartig auf Kompromissbereitschaft basierendes Verfahren nicht möglich. Vielmehr können hier engagierte Minderheiten ihre Interessen leichter durchzusetzen.
Theodor Heuss sagte, dass Volksabstimmungen eine "Prämie für Demagogen" seien. Diese Warnung besitzt auch heute Gültigkeit. Bei Volksentscheiden ist Demagogie und Populismus Tür und Tor geöffnet. Bestehende Ängste könnten geschürt und vordergründig einfache Lösungen für komplexe Sachverhalte propagiert werden. Es besteht die Gefahr, dass es nicht mehr um die Sachfrage als solche, sondern vielmehr darum geht, die Unzufriedenheit mit der Regierung kund zu tun und "die da oben abzuwatschen". Wenn Abstimmungen zu Denkzetteln werden, wird weder das Vertrauen in die Politik gestärkt noch der Politikverdrossenheit entgegengewirkt. Mit direkter Demokratie kann Politikverdrossenheit nicht bekämpft werden. Auch in der Schweiz ist die Beteiligung an allgemeinen Wahlen meist unter 50 Prozent.
Wie soll Vertrauen in das Parlament und seine Abgeordneten gestärkt werden, wenn sie wichtige Entscheidungen nicht mehr selbst treffen? Und es darf keine Flucht aus der parlamentarischen Verantwortung geben. Die Ausweitung plebiszitärer Elemente könnte dazu führen, dass unpopuläre und sensible Fragestellungen der Entscheidung des Volkes überlassen bleiben. Plebiszite auf Bundesebene stärken den Zentralismus, die guten Erfahrungen auf Kommunal- und Landesebene lassen sich nicht auf die Bundesebene "hochzurren". Auf regionaler Ebene hat sich das Verfahren direktdemokratischer Bürgerbeteiligung bewährt und ist dort auszubauen. Denn gerade für den kommunalen Bereich, wo es um Problemlösungen vor Ort geht, sind Volksentscheide und ähnliche Instrumente sinnvoll.
Mit freundlichen Grüßen
Maria Flachsbarth