Frage an Margrit Wetzel von Dieter J. bezüglich Soziale Sicherung
sehr geehrte Frau Dr. Wetzel ,
mich interessiert Ihre Haltung zu folgender Problematik :
Vor wenigen Jahren wurde die staatliche Versicherung gegen Berufsunfähigkeit abgeschafft . Gegen Berufsunfähigkeit sollte sich nun also jeder privat versichern . Ich habe aber festgestellt , dass die Versicherer hohe Hürden in Form von Ausschlusslisten aufgestellt haben . Darin werden praktisch alle kronisch Kranken oder Personen mit einer gesund-heitlich ungünstigen Perspektive von der Möglichkeit ausgeschlossen, sich gegen Berufsunfähigkeit zu versichern . Ich sehe keine Chance für die Betroffenen , sich hier alternativ absichern zu können . Diese Problematik betrifft ebenso wie der Aufbau einer privaten Rentenversorgung besonders stark die jungen Leute . Der Unterschied besteht hierbei natürlich darin , dass es keine staatliche Förderung gibt . Abgesehen davon werden die meisten Betroffenen das Geld für die Bildung einer zusätzlichen Rücklage nicht haben . Die Betroffenen stehen im Falle eine Berüfsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen echt vor dem Nichts .
Mich interessiert also :
gibt es schon Überlegungen um diesen Missstand zu beheben
würden sie , falls es nicht schon geschehen ist , die Sache mit
Ihren Politikerkollegen diskutieren
und natürlich , antworten Sie mir überhaupt
mit freundlichen Grüßen
Dieter Jäckel
Sehr geehrter Herr Jäckel,
vielen Dank für Ihre Frage bezüglich der Möglichkeiten beziehungsweise Schwierigkeiten, sich gegen Berufsunfähigkeit abzusichern.
Eine ganz ähnliche Frage wurde mir bereits vor etwas mehr als einem Jahr hier in diesem Forum gestellt. Meine heutige Antwort darauf lautet kaum anders als damals:
Lassen Sie mich vorweg stellen, dass das Risiko der Berufsunfähigkeit sich nur allgemein durch einen umsichtigen Lebenswandel allenfalls minimieren, jedoch niemals ausschließen lässt. Bei aller Verantwortung für die eigene Vorsicht und Vorsorge, bleibt Gesundheit und – wenn ich es mal so ausdrücken darf - „berufsspezifische Fitness“ ein Geschenk, auf das es keine Garantie gibt. Das war auch zu Zeiten, als die gesetzliche Rentenversicherung noch zwischen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit unterschied, nicht anders.
Das Risiko, das Sie abgesichert wissen möchten, ist die mit der der Berufsunfähigkeit meist einhergehende finanzielle Einkommenslücke. Ich halte es durchaus für gerecht, dass die gesetzliche Versicherung inzwischen darauf verzichtet, Einkommensausfälle auszugleichen, die sich daraus ergeben, dass jemand gesundheitsbedingt aus seinem erlernten und ausgeübten Beruf in eine niedriger entgoltene Tätigkeit wechseln muss oder müsste. Solange überhaupt die Fähigkeit und die praktische Möglichkeit besteht, den Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit zu bestreiten, sollte die gesetzlich definierte Solidargemeinschaft nicht in Anspruch genommen werden. Wer seinen Lebensunterhalt weder aus dem Einkommen einer Erwerbstätigkeit, noch aus anderen eigenen Mitteln (bzw. Unterhaltsleistungen aus der Familie) bestreiten kann, ist durch die staatlichen Leistungen der Grundsicherung abgesichert. Diese Leistung muss vielleicht nicht oder nur teilweise in Anspruch genommen werden von Personen, die während ihrer Berufsfähig- und –tätigkeit gesetzlich rentenversichert waren. Sie haben nach wie vor Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente, wenn ihre Erwerbstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt bzw. gar nicht mehr möglich ist.
Es ist also nicht ganz richtig, wenn Sie sagen, dass von Berufsunfähigkeit Betroffene vor dem NICHTS stehen würden. Mit einer gesetzlich garantierten Leistung den bisherigen Lebensstandard, soweit er aus einer besonders qualifizierten Tätigkeit und einem entsprechend überdurchschnittlichen Arbeitseinkommen resultiert, auch für den Berufsunfähigkeitsfall zu garantieren, kann sich der Sozialstaat meines Erachtens derzeit nicht leisten. So etwas ginge erst dann, wenn nach Erfüllung der unverzichtbaren Aufgaben in der staatlichen Daseinsvorsorge noch Mittel übrig sind.
Eine Berufsunfähigkeitsversicherung wäre insbesondere für Personen interessant, deren Beruf ihnen ein Einkommen ermöglicht, dass deutlich über dem Existenzminimum liegt. Je größer die Diskrepanz ist, zwischen dem gewohnten Lebensstandard und dem, der durch gesetzliche Leistungen garantiert werden kann, desto eher stehen der jeweiligen Person aber auch Mittel zur Verfügung, eine private Vorsorge für Alter und Berufsunfähigkeit zu treffen.
Dabei möchte ich zwei Aspekte um der Ehrlichkeit Willen nicht ausblenden: Dass private Versicherungen chronisch Kranke, Behinderte und Personen mit anderen besonderen gesundheitlichen Risiken zu schlechteren Bedingungen oder für bestimmte Risikofälle vielleicht gar nicht versichern, kann der Gesetzgeber selbst mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) nicht verhindern, wenn diese Ungleichbehandlung „auf anerkannten Prinzipien risikoadäquater Kalkulation beruht, insbesondere auf einer versicherungsmathematisch ermittelten Risikobewertung unter Heranziehung statistischer Erhebungen.“ (§ 20, 2). Eine Risikokalkulation, mit der ein Versicherungsunternehmen nach Wahrscheinlichkeitsgesichtpunkten mehr Beiträge von den Kunden einnimmt als es für Leistungsfälle insgesamt ausbezahlt, ist die legitime Geschäftsgrundlage eines privaten Unternehmens. Aus Sicht des Gesetzgebers wäre der Eingriff in die Privatautonomie zu gravierend, wenn Privatversicherungen gezwungen würden, Verträge mit Kunden unabhängig vom jeweils mitbringenden Risiko abzuschließen. Vermutlich würde eine dann betriebswirtschaftlich notwendige Umlage des Risikos den Abschluss der Versicherung für die Mehrheit der potentiellen Kunden unattraktiv und überflüssig (man kann auch sagen „verzichtbar“) machen.
Der zweite Aspekt, der nicht unerwähnt bleiben sollte, ist die Tatsache, dass der Anteil an Personen beunruhigend hoch ist, die trotz guter und sehr guter beruflicher Qualifikation, auch in der Situation der uneingeschränkten Berufsfähigkeit, nur ein Einkommen erzielen, dass sich nur wenig über dem Existenzminimum bewegt. Immer mehr Menschen können sogar trotz Vollzeiterwerbstätigkeit den Lebensunterhalt für sich und ihre Angehörigen nicht mit eigenem Einkommen bestreiten. Ihnen gegenüber wäre die Empfehlung zur privaten Vorsorge verächtliche Ignoranz. Gleichzeitig steigen die Einkommen deutlich in den oberen Einkommensklassen. Dass die Schere hier Jahr für Jahr auseinander geht, ist aus sozialdemokratischer Sicht nicht hinnehmbar. Als dringende Aufgabe der nächsten Zukunft sehe ich daher ein Vorankommen in der Frage des Mindestlohnes.
Mit freundlichem Gruß
Dr. Margrit Wetzel MdB