Frage an Marco Wanderwitz von Thomas S. bezüglich Wirtschaft
Sehr geehrter Herr Wanderwitz,
Der ESM-Vertrag gleicht einer Art "Ermächtigungsgesetz":
Art. 8, Abs. 1 Das genehmigte Stammkapital beträgt 700 Milliarden EUR.
Art. 10, Abs. 1 [...] Der Gouverneursrat kann beschließen, das genehmigte Stammkapital zu verändern und Artikel 8 [...] entsprechend zu ändern.
Das Stammkapital (und damit Deutschlands Anteil) kann nach belieben (!) erhöht werden.
Art. 32 Abs. 3 Der ESM, sein Eigentum, seine Mittelausstattung und seine Vermögenswerte genießen unabhängig davon, wo und in wessen Besitz sie sich befinden, Immunität von gerichtlichen Verfahren jeder Art [...]
Art. 32 Abs. 4 Das Eigentum, die Mittelausstattung und die Vermögenswerte des ESM genießen [...] Immunität von Durchsuchung, Beschlagnahme, Einziehung, Enteignung und jeder sonstigen Form des Zugriffs durch vollziehende, gerichtliche, administrative oder gesetzgeberische Maßnahmen.
Art. 35 Abs. 1 Im Interesse des ESM genießen der Vorsitzende des Gouverneursrats, die Mitglieder des Gouverneursrats, die stellvertretenden Mitglieder des Gouverneursrats, die Mitglieder des Direktoriums, die stellvertretenden Mitglieder des Direktoriums sowie der Geschäftsführende Direktor und die anderen Bediensteten des ESM Immunität von der Gerichtsbarkeit hinsichtlich ihrer in amtlicher Eigenschaft vorgenommenen Handlungen und Unverletzlichkeit hinsichtlich ihrer amtlichen Schriftstücke und Unterlagen.
Der ESM und seine Mitarbeiter befinden sich in einem rechtsfreien Raum!!!
Der ESM erhält beliebig viel Geld. Was mit dem Geld geschieht, unterliegt keiner Kontrolle. Gerichtsbarkeit und demokratische Legitimation sind nicht vorhanden. Mit dem ESM-Vertrag wird ein "Ermächtigungsgesetz" installiert. Werden Sie dem ESM-Vertrag am 29. Juni zustimmen? Können Sie den Wählern und Wählerinnen verdeutlichen, warum sie in den Artikeln und dem ESM insgesamt keine Probleme sehen?
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Steiding
Sehr geehrter Herr Steiding,
gern beantworte ich Ihre Anfrage.
Der ESM ist ein wesentlicher Baustein für eine neue europäische Stabilitätskontrolle. Er setzt ein deutliches Signal für nachhaltige Stabilität. Es können auch weiterhin Situationen auftreten, in denen akut in Schwierigkeiten geratene Euro-Länder kurzfristig unterstützt werden müssen. Ziel aller jetzigen und zukünftigen Maßnahmen darf aber nur die kurzfristige zielgerichtete Krisenhilfe sein, ganz ausdrücklich nicht die dauerhafte Alimentierung von Staaten.
Der ESM darf dabei nicht isoliert von den anderen, ebenso wichtigen Bausteinen für eine dauerhaft stabile Währungsunion betrachtet werden. Eine Währungsunion kann nur funktionieren, wenn jedes Mitgliedsland aus eigener Kraft solide wirtschaftet und wettbewerbsfähig ist. Ein fundamentaler Baustein im neuen Regelungsgefüge Europa ist neben dem ESM daher der von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten beschlossene Fiskalvertrag. Die Einführung von Schuldenbremsen nach deutschem Vorbild in allen anderen Euro-Staaten, die mit diesem Vertrag verpflichtend wird, ist eine entscheidende Weichenstellung für die Stabilisierung unserer Gemeinschaftswährung. Im Vertrag sind auch Maßnahmen zu einer verbesserten wirtschaftspolitischen Koordinierung sowie für mehr Konvergenz enthalten. Nicht zuletzt verbessern wir mit der Schärfung des Stabilitätspakts und der Einführung des Euro-Plus-Pakts die Rahmenbedingungen für eine stabile und wettbewerbsfähige Währungsunion noch weiter.
Um eine enge Verzahnung der Aspekte kurzfristige Krisenhilfe und mittel- bis langfristige Solidität der Empfängerländer zu gewährleisten, fußt der ESM auf dem Grundsatz, dass Solidarität nur bei entsprechender fiskalpolitischer Solidität gewährt werden kann. Leistungen des ESM dürfen daher auch nur von Staaten beansprucht werden, die die Vorgaben des Fiskal-Vertrages umsetzen - insbesondere die der nationalen Schuldenbremsen.
Es ist nicht so, dass wir mit dem ESM unsere Verpflichtung für einen verantwortungsvollen Umgang mit deutschen Steuergeldern aus der Hand geben. Der Deutsche Bundestag wird seine Haushaltsverantwortung im Zusammenhang mit dem ESM in vollem Umfang wahrnehmen. Der Deutsche Bundestag muss nicht nur den ESM-Vertrag durch ein Zustimmungsgesetz ratifizieren und den deutschen Beitrag zum Stammkapital des ESM genehmigen. Der Deutsche Bundestag oder seine Gremien werden auch danach bei allen Entscheidungen einbezogen, wenn dies die Haushaltsverantwortung des Deutschen Bundestages erfordert. Die Kriterien dafür legen wir selbst fest. Es gilt insbesondere für die Entscheidungen, einem in Not geratenen Euro-Mitgliedstaat eine Finanzhilfe zu gewähren.
Der ESM wird über ein Stammkapital von insgesamt 700 Mrd. Euro verfügen, aufgeteilt in 80 Mrd. Euro eingezahltes Kapital und 620 Mrd. Euro abrufbares Kapital. Der Vertrag sieht vor, dass das eingezahlte Kapital von 80 Mrd. Euro von den ESM-Mitgliedern über einen Zeitraum von fünf Jahren in gleichen jährlichen Raten entrichtet wird. Der deutsche Beitrag zum Stammkapital - rund 22 Mrd. Euro eingezahltes und 168 Mrd. Euro abrufbares Kapital - wird vom Deutschen Bundestag gesetzlich genehmigt. Nur das bereits genehmigte abrufbare Stammkapital kann entsprechend der Vorgaben des ESM-Vertrags abgerufen werden.
In Artikel 10 Absatz 1 ESM-Vertrag ist vorgesehen, dass das maximale Darlehensvolumen und die Angemessenheit des genehmigten Stammkapitals regelmäßig überprüft werden. Änderungen erfordern einen einstimmigen Beschluss des Gouverneursrats, in dem die Mitgliedstaaten durch ihre Finanzminister, welche die demokratisch legitimierten Regierungen der Eurostaaten repräsentieren, vertreten sind. Deutschland verfügt auf Grund des Einstimmigkeitserfordernisses jederzeit über ein Vetorecht; ein Beschluss gegen die Stimme Deutschlands ist also nicht möglich. Für eine Erhöhung des genehmigten Stammkapitals wäre in Deutschland eine erneute gesetzliche Regelung erforderlich. Artikel 10 Absatz 1 ESM-Vertrag sieht hierzu ausdrücklich vor, dass ein Beschluss des Gouverneursrats zur Änderung des Kapitals erst in Kraft tritt, nachdem die jeweils erforderlichen nationalen Verfahren zur Umsetzung des Beschlusses abgeschlossen sind.
Bei den in den Artikeln 32 und 35 ESM-Vertrag vorgesehenen Immunitäten für den ESM, sein Vermögen sowie seine Amtsträger und Bediensteten handelt es sich um bei internationalen Finanzinstitutionen seit Längerem übliche Regelungen. Die Tätigkeit des ESM beinhaltet äußerst komplexe rechtliche Vorgänge. Durch die Regelungen soll der ESM und sein Vermögen vor unberechtigtem Zugriff Dritter geschützt werden. Das ist im Interesse der ESM-Mitglieder und damit auch des deutschen Steuerzahlers. Die persönliche Immunität der Amtsträger und Bediensteten kann durch den Gouverneursrat des ESM, in dem die Finanzminister der Mitgliedstaaten der Eurozone vertreten sind, bzw. den Geschäftsführenden Direktor aufgehoben werden. Dadurch wird Missbrauch verhindert. Vergleichbare Regelungen gelten u. a. für den IWF, die Weltbank sowie regionale Entwicklungsbanken wie z. B. die Afrikanische Entwicklungsbank und die Asiatische Entwicklungsbank . Die Kontrolle findet über die nationalen Regierungen statt, die demokratisch legitimiert sind.
Ihre Schlüsse sind also allesamt falsch, sowohl die zur finanziellen Bindung Deutschlands, als auch die zur fehlenden Legitimierung und Kontrolle.
Mit freundlichen Grüßen
Marco Wanderwitz