Frage an Manuel Sarrazin von Thomas S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Sarrazin,
Sie haben die Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon durch Herrn Kacynski begrüßt und erklärt, dass dieser nun zur Vernunft gekommen ist (Pressemitteilung der Grünen, 10Okt09). Gemäß Ihrer Erklärung macht der EU-Vertrag die EU handlungsfähiger, transparenter und demokratischer.
Ich würde dieses Statement gerne nachvollziehen können. Deswegen bitte ich Sie mir mitzuteilen, inwiefern bzw. durch was die EU Ihrer Ansicht nach handlungsfähiger, transparenter und demokratischer wird.
Was ist dann möglich, was heute (vor endgültigem Beschluß des Vertrages) nicht möglich ist?
Wie profitieren wir Bürger davon und wieso ist dieser EU-Vertrag gerade aus "grüner" Sicht vorteilhaft.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Schuck
Sehr geehrter Herr Schuck,
vielen Dank für Ihre Frage zu diesem wichtigen Thema. Als Europapolitiker beschäftigt mich der EU-Reformvertrag sowie Fragen zur Zukunft der EU seit einigen Jahren. In der Tat hat es mich sehr gefreut, dass der polnische Präsident am 10.10.09 den EU-Reformvertrag, den Vertrag von Lissabon (VvL), unterschrieben hat. Durch meine guten Beziehungen nach Polen habe und hatte ich den Eindruck, dass die Mehrheit der polnischen BürgerInnen den Vertrag von Lissabon definitiv unterstützt. Zuletzt nach dem irischen Referendum gab es keinen Grund mehr für den Europskeptiker Kacynski sich weiterhin gegen den VvL zu sträuben.
Wir Grünen unterstützen den Vertrag von Lissabon, da er die dringend notwendigen Reformen der EU ermöglicht und die EU aus ihrem langjährigen institutionellen Stillstand herausholt. Sie haben mich gefragt, inwiefern der VvL die EU handlungsfähiger, transparenter und demokratischer macht.
*Handlungsfähiger* wird die EU mit den VvL, da dieser die oftmals schwerfälligen Entscheidungs- und Abstimmungsverfahren ändert. Beispielweise wird eine große Zahl von Bereichen, in denen vorher Einstimmigkeit im Rat gefordert war in die qualifizierte Mehrheit überführt. Neben der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen führt der VvL im Ministerrat die sogenannte doppelte Mehrheit ein. Damit vereinfacht sich das derzeitig komplizierte Abstimmungsverfahren. Mehrheitsentscheidungen im Rat kommen dann zustande, wenn 55 Prozent der Staaten, die gleichzeitig 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, zustimmen.
Mit der Schaffung eines Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik durch den VvL wird die EU auch außenpolitisch kohärenter. Der Hohe Vertreter wird dabei drei Funktionen auf sich vereinen: die des Kommissars für Außenbeziehungen, die des Hohen Vertreters für die GASP und die des Vorsitzenden im Rat "Auswärtige Angelegenheiten". Der Hohe Vertreter wird gleichzeitig Vizepräsident der Kommission und wird von einem neu einzurichtenden Europäischen Auswärtigen Dienst unterstützt.
Statt der bisherigen halbjährlichen Rotation sieht der VvL einen dauerhaften Repräsentanten des Europäischen Rates vor. Ein auf zweieinhalb Jahre gewählter Präsident soll das Gremium der Staats- und Regierungschefs -- den Europäischen Rat -- leiten.
Die EU-Kommission, in der bislang jeder Mitgliedstaat einen Kommissar stellen darf, wird ab 2014 verkleinert. Vorgesehen ist, dass dann nur noch 2/3 der Mitgliedstaaten in der Kommission vertreten sind. Das Prinzip der gleichberechtigten Rotation soll dann gelten, so dass jedes Land in zwei von drei Kommissionen vertreten sein wird.
Ebenfalls ist im VvL die Erweiterung der Verstärkten Zusammenarbeit vorgesehen. Dieses Instrument, mit dem es einer Gruppe von Mitgliedstaaten ermöglicht werden soll enger zusammenzuarbeiten, wurde vereinfacht und auf weitere Politikbereiche ausgedehnt.
*Transparenter* wird die EU mit dem VvL, da dieser eine Öffentlichkeit der Gesetzgebung vorsieht. Nicht nur im Parlament, sondern auch im Ministerrat wird das Prinzip der Öffentlichkeit der Gesetzgebung gelten, diese werden dann per Kamera über Internet übertragen.
**Der VvL sieht ebenfalls vor, die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in die Gemeinschaftsmethode (d.h. in das Mitentscheidungsverfahren) zu überführen. Derzeit wird dieser Bereich der Innen- und Rechtspolitik der EU vorallem durch die Exekutiven, d.h. durch die Innen- und RechtsministerInnen sowie der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten entschieden. Das Europäische Parlament wird bei der Verabschiedung von Rechtsakten nur angehört oder konsultiert. Mit dem VvL soll das Parlament nach einer Übergangszeit von 5 Jahren komplett als gleichberechtigter Partner mit für die Rechtsetzung verantwortlich sein.
Einen *Demokratiezuwachs* sehen wir Grüne darin, dass das Europäische Parlament durch den VvL gestärkt wird. Das bisherige "Mitentscheidungsverfahren", in dem das Parlament gleichberechtigt am Gesetzgebungsprozess beteiligt wird, wird zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der EU. Das Parlament und der Ministerrat werden dadurch in 95 Prozent der Europäischen Gesetzgebung zum gleichberechtigten Gesetzgeber. Dies erhöht die demokratische Legitimität der Europäischen Gesetzgebung.
Die Stärkung des Parlaments bezieht sich auch auf den Haushalt der EU, da es mit dem VvL eine Mitbestimmung bei allen Haushaltstiteln hat (d.h. auch bei der europäischen Agrarpolitik, wo dies bisher nicht der Fall ist). Zudem wird das Parlament den Präsidenten der Kommission mit der Mehrheit seiner Mitglieder wählen. Damit gibt es erstmals eine direkte Legitimationskette von den Bürgerinnen und Bürgern über das Parlament zur Kommission.
Auch die Rolle der nationalen Parlamente wird durch den VvL aufgewertet:* *Die Parlamente der Mitgliedstaaten, in Deutschland also Bundestag und Bundesrat, werden direkt in die EU-Gesetzgebung eingebunden durch das Subsidiaritäts-Frühwarnsystem und das Klagerecht der nationalen Parlamente beim EuGH bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip.
Mit der EU-Bürgerinitiative wird erstmals ein direktdemokratisches Element in die EU eingeführt. Damit können 1 Million EU-BürgerInnen die Kommission einladen, zu einem bestimmten Bereich einen Gesetzesvorschlag vorzulegen.
Zur Änderung des EU-Reformvertrages wird es im ordentlichen Verfahren einen Konvent geben müssen.
Neben den oben genannten Veränderungen profitieren die BürgerInnen in Europa auch von dem verbesserten *Grundrechteschutz* durch den VvL. Die EU-Grundrechtecharta, die bereits im Jahr 2000 von den europäischen Staats- und Regierungschefs verabschiedet wurde, wird mit Inkrafttreten des VvL rechtsverbindlich. Die Erarbeitung einer verbindlichen EU-Grundrechtecharta war eine wichtige Forderung von uns Grünen. Schon Mitte der neunziger Jahre haben grüne Europaabgeordnete den ersten Vorschlag einer Grundrechtecharta vorgelegt.
**Der europaskeptische Präsident Lech Kacynski hingegen hatte bereits 2007 mit seinem Bruder Jaroslaw Kacynski, dem damaligen Ministerpräsidenten Polens, gegen die EU-Grundrechtecharta agiert und eine Zusatzerklärung für sein Land durchgesetzt. In dieser Erklärung Polens zur Grundrechtecharta wird betont, dass die Charta in keiner Weise das Recht der Mitgliedstaaten berührt, in den Bereichen der öffentlichen Sittlichkeit, des Familienrechts sowie des Schutzes der Menschenwürde und der Achtung der körperlichen und moralischen Unversehrtheit Recht zu setzen. Insbesondere die in der Grundrechtecharta vorgesehenen Rechte für Homosexuelle waren für die Kacynski-Brüder Auslöser für diese Erklärung.
Ich hoffe Ihre Fragen hiermit zufriedenstellend beantwortet zu haben.
Mit freundlichen Grüßen,
Manuel Sarrazin