Wie begründen Sie eine allgemeine Impfpflicht, wenn weder bekannt ist, welche Variante bei deren Inkrafttreten vorherrschend ist, noch ein wirksamer Impfstoff gegen diese Variante verfügbar ist?
Sehr geehrter Herr Özdemir,
Niemand kann vorhersehen, welche Virenvariante zum Zeitpunkt des Inkrafttretens einer allgemeinen Impfpflicht aktiv sein wird. Die bisherige Entwicklung hat gezeigt, dass das Covid19 Virus sehr schnell mutiert und die Wirksmkeit der - vorläufig - zugelassenen Impstoffe mit jeder Mutation nachlässt.
Die Entwicklung eines Impfstoffes für eine neue Variante dauert lange - es ist wahrscheinlich, dass schon eine neue Variante das Infektionsgeschehen dominiert, wenn ein Impfstoff fertig entwickelt ist.
Die Entwicklung eines Impstoffes wird den Mutationen eines Virus immer hinterherlaufen.
Bis heute sind die bei uns zugelassenen Impfstoffe nur vorläufig zugelassen - soll es in Zukunft mit einer Impfpflicht die Regel werden, dass die Zulassungsverfahren extrem verkürzt werden, um mit der Geschwindigkeit, mit der das Virus mutiert, mithalten zu können?
Können Sie das durch die Zustimmung zu einer allgemeinen Impfpflicht verantworten?
Sehr geehrter Herr G.,
haben Sie vielen Dank für Ihre Zuschrift.
Der Gesetzentwurf zur Impfpflicht befasst sich mit eben jener und nicht mit der Entwicklung und den Zulassungsverfahren von Impfstoffen. Letzteren Aspekt möchte ich Ihnen trotzdem gerne im Folgenden erläutern, da Ihre Frage auch auf das Verfahren abzielte.
Die Impfstoffentwicklung gestaltet sich wie folgt: Zunächst wird der Erreger analysiert und geprüft, auf welche Bestandteile des Virus das Immunsystem des Menschen reagiert und einen Schutz (u.a. durch Antikörper und die zelluläre Immunantwort) aufbauen kann.
Danach folgt die Entwicklung des Impfstoffdesigns – welche Impfstoff-Plattform ist geeignet und welche Zusatzstoffe werden benötigt?
Im Rahmen der pharmakologisch-toxikologischen Untersuchungen wird an Tieren die Immunogenität getestet, d.h. die Eigenschaft des Impfstoffs, eine spezifische Immunantwort gegen den Zielerreger zu erzeugen, außerdem werden mögliche toxikologischen Eigenschaften, u.a. durch wiederholte Gabe einer erhöhten Impfstoffdosis (“repeat-dose toxicity“), die Verteilung von Impfstoffbestandteilen im Organismus, die Lokalreaktionen, potenziell schädliche Wirkungen auf Fruchtbarkeit und Embryonalentwicklung, die Entzündungsparameter nach Impfung, der Impfschutz und Hinweise auf Infektionsverstärkung untersucht.
Nach erfolgtem Nachweis, dass der Impfstoff in für die Anwendung am Menschen geeigneter Qualität verlässlich hergestellt werden kann, wird er in klinischen Prüfungen der Phase 1 bis Phase 3 an freiwilligen Studienteilnehmenden nach deren umfassender Aufklärung erprobt. Klinisch werden die Verträglichkeit, die Sicherheit und die Wirksamkeit des Impfstoffkandidaten geprüft. Liegen ausreichende Ergebnisse der qualitätsgesicherten konsistenten Herstellung eines qualitativ hochwertigen Impfstoffprodukts sowie der präklinischen und klinischen Prüfungen vor, kann ein Zulassungsantrag gestellt werden.
Für die Europäische Union (EU) und die Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) wird das Bewertungsverfahren für COVID-19-Impfstoffe durch die Europäische Arzneimittelagentur EMA (European Medicines Agency) koordiniert. Die Impfstoffbewertung der EMA nehmen die Expertinnen und Experten der nationalen Arzneimittelbehörden der EU-Mitgliedstaaten und der EWR-Staaten im Ausschuss für Humanarzneimittel CHMP (Committee for Medicinal Products for Human Use) in Zusammenarbeit mit der Biologics Working Party (BWP) des CHMP sowie im Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz PRAC (Pharmacovigilance Risk Assessment Committee) vor. Erfüllt der Impfstoff alle arzneimittelrechtlichen Bedingungen und ist das Nutzen-Risiko-Verhältnis günstig, erfolgt eine positive Stellungnahme des CHMP mit Zulassungsempfehlung, auf deren Basis die Europäische Kommission die Zulassung erteilen kann. Das zugelassene Impfstoffprodukt kann vermarktet und am Menschen angewendet werden.
Eine Empfehlung, welche Personengruppen zu welchen Zeitpunkten gegen eine Infektionskrankheit geimpft werden sollten, gibt in Deutschland die Ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut, in der das Paul-Ehrlich-Institut als Gast vertreten ist.
In Europa gibt es drei standardisierte Verfahren, die jeweils unter bestimmten Voraussetzungen eine frühzeitige Zulassung von Impfstoffen ermöglichen:
• das beschleunigte Bewertungsverfahren (accelerated assessment)
• die bedingte Zulassung (conditional marketing authorisation)
• die Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen (authorisation under exceptional circumstances).
Ergänzend zu diesen Verfahren können Arzneimittelentwickler an einem freiwilligen Programm zur Beschleunigung eines Zulassungsprozesses, dem PRIME-Verfahren der Europäischen Arzneimittelagentur (European Medicines Agency, EMA), teilnehmen.
Um die Zulassung von COVID-19-Impfstoffen bestmöglich zu beschleunigen, wurde das Rolling-Review-Verfahren eingesetzt, welches für solche pandemischen Gesundheitslagen etabliert ist.
Im beschleunigten Bewertungsverfahren (accelerated assessment) wird die regulatorische Bewertungszeit von 210 Tagen auf 150 Tage verkürzt. Voraussetzung ist, dass die Europäische Arzneimittelagentur (European Medicines Agency, EMA) dem Arzneimittelentwickler eine beschleunigte Beurteilung gewährt.
Dieses Verfahren ist bei Arzneimitteln möglich, die von großem Interesse für die Allgemeinheit (Public Health) sind, z.B. weil sie auf eine Erkrankung abzielen, für die es bisher noch keine Behandlungsmöglichkeit gibt und ein besonderer medizinischer Bedarf besteht, der nicht gedeckt ist (unmet medical need).
Für weiterführende Informationen empfehle ich die Website des Paul-Ehrlich-Instituts, auf welche auch ich mich in dieser Antwort beziehe.
Mit freundlichen Grüßen
Mahmut Özdemir