Frage an Lothar Binding von Hans-Jürgen M. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Lothar Binding
Im Datenreport 2008 des Statistischen Bundesamtes findet man auf Seite 146, Tabelle 1 das „Haushaltsnettoeinkommen nach sozialer Stellung 2006“.
In der Spalte „Anteile der Haushalte in %“ erscheinen im Monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von 2.600,00 € und mehr, die Beamtinnen und Beamten in absoluter Spitzenposition mit 68,6 % gegenüber dem Angestellten mit 38,5 % und den Arbeiterinnen und Arbeitern mit 22,3 %.
Da auch die staatlichen Pensionäre im Durchschnitts-Jahresnettoeinkommen mit 28.600,00 € im Vergleich zum Rentner mit 20.900,00 € weit über dem Empfinden für Gerechtigkeit liegen, frage ich Sie ob diese Überversorgung bzw. Besoldung der Beamtinnen und Beamten einer kritischen Prüfung und entsprechender Reduzierung unterzogen werden sollte. Bei diesen überdurchschnittlichen Besoldungen und Pensionen muss sich doch der Angestellte und Arbeiter jeden Tag fragen ob sein Beitrag zum Bruttosozialprodukt so wenig wert ist.
Mit freundlichen Grüßen
Hans-Jürgen Möschke
Sehr geehrter Herr Möschke,
für Ihre Frage nach einer „kritischen Prüfung und entsprechender Reduzierung“ der Beamtenbesoldung danke ich Ihnen recht herzlich. Ihre Überlegungen sind grundsätzlich und auch in anderem Zusammenhang bedenkenswert. Aus vielen Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern sowie meiner parlamentarischen Arbeit kenne ich Einkommensvergleiche von Beamten, Angestellten und Arbeitern in ihrem Erwerbsleben bzw. im Ruhestand – wie auch die daran anknüpfenden Argumentationen und Gerechtigkeitsvorstellungen.
Dabei tritt oft in den Hintergrund, dass es viele Beamte gibt, deren Einkommen recht bescheiden ist. Nehmen Sie z.B. einen Hausmeister in einer Schule oder Polizeibeamte in einer unteren Laufbahn. Aber es gibt auch hoch bezahlte Beamte, z.B. einen Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Die Spreizung ist enorm. Ähnliches gilt für Angestellte und Arbeiter. Insofern ist der Einzelvergleich schwierig – aber Ihre Frage nach den Unterschieden im durchschnittlichen Einkommen natürlich berechtigt.
Zusätzlich müssen wir berücksichtigen, ob Ausbildung, Art der Tätigkeit und so weiter dieser beiden Gruppen vergleichbar sind. Angenommen, in der Gruppe der Beamten haben alle studiert und starten ihre Beamtenlaufbahn im Alter von 25, und in der Gruppe der Angestellten und Arbeiter haben alle Hauptschulabschluss und beginnen (wie ich) schon im Alter von 15 oder 16 eine Lehre bzw. mit 19 Jahren, Arbeitseinkommen zu erzielen. So ist es natürlich nicht – ich wollte nur andeuten, dass bei solchen Vergleichen mehr zu berücksichtigen ist als das durchschnittliche Einkommen.
Oder betrachten wir einen weiteren Parameter: die Besteuerung. Das Verfassungsgericht hat geurteilt, dass es verfassungswidrig ist, die Pensionen voll zu versteuern, bei der gesetzlichen Rente aber nur den Ertragsanteil. Deshalb wird nun gesetzlich geregelt bis zum Jahr 2040 von der vorgelagerten auf die nachgelagerte Versteuerung umgestellt. Außerdem sollen die Pensionen nach und nach „wirkungsgleich“ der gesetzlichen Rente angepasst werden.
Die folgenden, eher grundlegenden Ausführungen sollen andeuten, welche Aspekte mir anlässlich Ihrer frage noch wichtig sind – ohne dabei auf Fragen etwa der Tarifautonomie, der Preisbildung am Arbeitsmarkt oder der international beachtlichen Leistungsfähigkeit unserer Beamtinnen und Beamten einzugehen.
Ihre Frage einer gerechten Entlohnung einer beruflichen Tätigkeit ist vielschichtig:
Die Gehaltsstrukturen und Anreizsysteme vieler Banken und Investmentgesellschaften haben Aufsichtsräten, Fondsmanagern oder Wertpapierhändlern Einkommen ermöglicht, die das Vielfache eines „normalen“ Arbeitslohns oder Angestelltengehalts betrugen – und auch die Besoldung eines Aufsichtsbeamten der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) bei weitem in den Schatten gestellt haben. Angesichts der enormen Bonuszahlungen allerdings auf einen langfristig produktiven „Beitrag zum Bruttosozialprodukt“ zu schließen, ist mit Blick nicht nur auf die aktuelle internationale Wirtschaftskrise, die ihren Ursprung auch in diesen Gehaltsstrukturen hatte, nicht zulässig; wir sind uns in dieser Bewertung sicher einig. Diese Gehälter, die schnelllebiges Renditestreben und riskantes Verhalten im Management vieler Kreditinstitute begünstigt haben, sind nach meinem Empfinden ungerecht. Sie sind darüber hinaus auch unmoralisch, weil offensichtlich immer noch Bonuszahlungen im Millionenbereich und üppige Dividendenzahlungen an Aktionäre möglich sind, während Gesellschaften, Unternehmen und Arbeitnehmer weltweit mit der Bewältigung der Managementfehler in vielen Kreditinstituten kämpfen müssen.
Auch die sittenwidrigen Löhne in bestimmten Branchen und Regionen Deutschlands von unter drei Euro verstoßen gegen mein Gerechtigkeitsempfinden; deshalb ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns nach meiner Einschätzung ein wichtiger Hebel, um der Einkommensarmut vieler Menschen, insbesondere auch von Familien, zu begegnen. Eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen und damit von Chancen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist eine der zentralen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Die statistischen Kennziffern, die Sie in Ihrem Schreiben genannt haben, bieten dabei wichtige Positionsbestimmungen und Hinweise, ob unsere Arbeitsrichtung stimmt.
Ihre Aussagekraft darf allerdings auch nicht überschätzt werden. Es stellt meiner Einschätzung nach eine Verkürzung in der Argumentation dar, wenn wir unser Gerechtigkeitsempfinden lediglich an Vergleichen zwischen stark verdichteten Daten wie dem Monatlichen Haushaltsnettoeinkommen oder dem durchschnittlichen Jahreseinkommen ausrichten. Wir können zwar aus personenbezogenen Daten einer beliebig großen Zahl an „Merkmalsträgern“ Erkenntnisse über die dahinter stehenden, statistisch homogenen Gruppen gewinnen – der Umkehrschluss von diesen Kennziffern auf den Beitrag des Einzelnen zum Bruttosozialprodukt, seine gesellschaftliche oder persönliche Wertschätzung oder seinen sozialen Status ist allerdings nicht sinnvoll.
Ein Beispiel kann Ihnen vielleicht verdeutlichen, warum ich mich mit einfachen Zusammenhängen nach dem Prinzip „Das statistische Haushaltseinkommen definiert individuelle Reputation, sozialen Status und Beitrag zum Bruttosozialprodukt“ schwer tue: Das Gehalt eines Zugführers oder Busfahrers liegt deutlich unter dem eines Piloten; aber ist das nicht ungerecht, da ja auch Busfahrer große Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Passagiere tragen? Der Pilot wird zur Rechtfertigung seines höheren Gehalts allerdings darauf verweisen, dass er mehr Zeit und Geld in seine Ausbildung investiert habe und andere Qualifikationen und Voraussetzungen mitbringen müsse. Ist er deshalb aber auch gleich mehr „wert“ als der Zugführer oder Busfahrer – dies wird wohl niemand vernünftigerweise behaupten wollen.
Diese Argumentation gilt in ähnlicher Weise auch für die Einkommensunterschiede zwischen Beamten, Angestellten und Arbeitern. Diese Unterschiede spiegeln als statistische und empirische Verhältnisgrößen viele Einflussfaktoren wider, die ihrerseits allerdings – wenn überhaupt – nur bedingt sozialen Regelmäßigkeiten unterliegen. Den persönlichen Lebensumständen der Menschen, die sich hinter diesen Daten „verstecken“, können sie nicht gerecht werden. Ich denke an individuelle Entscheidungen der Lebensplanung, an Bildungsgrad und Leistungsbereitschaft, an persönlichen Ehrgeiz oder familiäre Unterstützung. Es bleibt Jedem und Jeder selbst überlassen, welchen beruflichen Weg er oder sie einschlägt; die Entlohnung ist dabei sicherlich nur einer von vielen Parametern. Darüber hinaus spielen auch persönliche Neigungen und Interessen, individuelle Voraussetzungen und fachliche Qualifikationen, sowie familiäre Traditionen eine Rolle. Ich selbst habe mich etwa bewusst dafür entschieden, nicht die Beamtenlaufbahn einzuschlagen.
Die Daten des Statistischen Bundesamtes liefern meiner politischen Arbeit für eine Verbesserung persönlicher Lebensumstände der Bürgerinnen und Bürger und für eine gerechtere Gesellschaft nur wenige neue Erkenntnisse, die ich nicht schon durch direkte Erfahrung eindrücklicher gewonnen habe. Meine Gerechtigkeitsvorstellungen knüpfen daher an konkreten Lebenssituationen und persönlichen Erfahrungen an, die ich in Gesprächen mit vielen unterschiedlichen Menschen kennengelernt habe.
Ich hoffe, Ihr Verständnis für meine Einschätzung in dieser Frage gewonnen zu haben und verbleibe
mit freundlichem Gruß, Ihr Lothar Binding.