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Frage von Lilia S. •

Frage an Lothar Binding von Lilia S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Binding,

ich schreibe ihnen heute im Namen der Klasse 10b des Carl-Benz-Gymnasiums Ladenburg. In Gemeinschaftskunde beschäftigen wir uns im Moment nämlich mit der Frage, wie frei das freie Mandat wirklich ist.

Anhand von Beispielen einiger politischer Konflikte, die durch das Spannungsverhältnis von Gewissensfreiheit und Fraktionsdisziplin entstanden sind, arbeiteten wir die verschiedenen Aspekte heraus. Allerdings gelangten wir zu keiner abschließenden Antwort.

Da sie sich, als Abgeordneter,mit dieser Relation regelmäßig auseinandersetzen müssen, möchten wir sie um eine persönliche Stellungnahme zum Thema "Spannungsverhältnis zwischen Gewissensfreiheit und Fraktionsdisziplin" bitten.

Wir würden uns sehr über eine Rückmeldung von ihnen freuen und danken ihnen schon im voraus.

Mit freundlichen Grüßen,
die 10b

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Antwort von
SPD

Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Lilia Steck,

Sie stellen eine wichtige Frage zur Demokratie und ihren praktischen Konsequenzen für das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten, auf die ich häufig angesprochen werde. Vielen Dank dafür. Leider umfasst meine Antwort fast 6 Seiten - aber gerade weil Sie schreiben, dass Sie - was ich sehr gut verstehen kann - zu "keiner abschließenden Antwort" kamen, möchte ich möglichst viele Aspekte beleuchten. Als ich noch für die Industrie und an der Universität gearbeitet habe, also bevor ich in den Bundestag kam, konnte ich mir diese Fragen auch nicht beantworten und musste einige Überlegungen, vielleicht auch Vorurteile, korrigieren.

Sie hinterfragen vorsichtig und klug das "Spannungsverhältnis von Gewissensfreiheit und Fraktionsdisziplin". Oft unterstellen einige Bürgerinnen und Bürger leider einfach: "Fraktionszwang".

Aber es gibt keinen Fraktionszwang. Wer wollte mich zwingen? Ich bin ein frei gewählter Abgeordneter, und gemäß unserer Verfassung darf und kann mich niemand zwingen.

Allerdings gibt es eine Drucksituation wie in fast jeder Gruppe. Ein Beispiel: Was wäre mit der Kraft der Gewerkschaften, wenn jeder die Beschlüsse der eigenen Gruppe missachten würde und sich nur um seine ganz privaten Interessen kümmerte oder nur seine eigene, seine einzelne Meinung gelten lassen würde? Jeder würde für sich verhandeln, vereinzelt und damit schwach - im Ergebnis würden alle Arbeitnehmer schlechter dastehen. Und ob tatsächlich am Ende jeder überhaupt Erfolge in die von ihm gewünschte Richtung erzielt hat, ist sehr fraglich.

Meine Überlegungen zum "Spannungsverhältnis von Gewissensfreiheit und Fraktionsdisziplin" erfordern einige Vorbetrachtungen über die inhaltliche Orientierung einer Fraktion und münden dann in einer Abwägung verschiedener Aspekte und Verhaltensweisen in Abstimmungen.

Ähnliche Effekte wie eben für Gewerkschaften angedeutet, gibt es im Bundestag. Dort gibt es gegenwärtig fünf Fraktionen. Die Wahl der Mitglieder dieser Fraktionen beruht auf Nominierungskonferenzen in den einzelnen Wahlkreisen. In den Wahlkreisen stellen wir uns zur Wahl auf der Grundlage eines Programms. Alle Parteien haben Programme - Grundsatzprogramme, Wahlprogramme, Regierungsprogramme - oder wenigstens Grundsätze oder einen Namen, um ihre Denk- und Arbeitsrichtung anzudeuten. Dort erkennen wir die grundsätzlichen Ziele, für die jeder kandidiert, sozusagen das Versprechen darüber, welche Gesetze nach der Wahl beschlossen werden bzw. welche Politik dann zu erwarten ist - falls man erstens gewählt ist und zweitens regieren darf. Für mich gelten in diesem Zusammenhang aktuell das Hamburger Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschland (SPD) und das für die auf die Wahl im September 2005 folgende Legislaturperiode erarbeitete Regierungsprogramm.

Da es fast nicht vorkommt, dass eine Fraktion allein die Kanzlermehrheit erreicht, müssen nach jeder Wahl Koalitionen gebildet werden. Damit findet sich fast kein vor der Wahl angestrebtes Vorhaben in Reinkultur nach der Wahl wieder. Manchmal wird sogar das Gegenteil verabredet, weil man in den Koalitionsverhandlungen an einer Stelle zu 100 % nachgibt, um sich an einer anderen Stelle zu 100 % durchzusetzen.

Ein schönes Beispiel ist das Versprechen der Kandidaten der SPD vor der Bundestagswahl 2005: "Keine Mehrwertsteueranhebung". Nach der Wahl gab es praktisch nur die Möglichkeit, eine große Koalition zu bilden. Die CDU/CSU wollte die Arbeitnehmerrechte dramatisch verschlechtern, z.B. den Kündigungsschutz. Die Verhandlungen umfassten viele verschiedene Punkte und führten zu Ergebnissen, die oft nicht mehr mit den ursprünglichen Zielen der beiden Fraktionen in Übereinstimmung gebracht werden können. Aber der erzielte Kompromiss - die Zustimmung der SPD zur Mehrwertsteueranhebung, um im Gegenzug die Unionsfraktion zur Zustimmung zum Erhalt des Kündigungsschutzes zu bewegen - ist gleichwohl sehr gut, denn das Volk hat diese beiden vor der Wahl konkurrierenden Parteien durch die Wahl zusammengeschweißt. Auch wenn man über einzelne Punkte des Kompromisses streiten kann - gut ist ein solcher Kompromiss schon deshalb, weil er die Regierungsfähigkeit sicher stellt und damit dem Fortbestand unserer Demokratie dient.

Die Politik der Oppositionsfraktionen orientiert sich auch wesentlich an Programmen, die die jeweiligen Parteien vor der Wahl erarbeitet haben. Da jede Oppositionspartei bzw. die dazugehörige Fraktion im Bundestag glaubt, das bessere Programm zu haben und deshalb besser regieren zu können, stellt die Opposition mit wenigen Ausnahmen die Regierungspolitik in schlechtem Lichte dar - und zwar auch jene Entscheidungen, die für das Volk wirklich gut sind. Aber wenn die Opposition die Regierung für gute Politik loben würde, würden die Oppositionsfraktionen kaum eine Chance haben, bei künftigen Wahlen die Regierung stellen zu dürfen.

Hier liegt eine der Ursachen, warum sich jedes Mitglieder einer "Regierungsfraktion" gut überlegt, mit der Opposition gemeinsam abzustimmen - hier spreche ich aber nur von den strittigen, wichtigen und medial auffälligen Abstimmungen

Für mich war interessant zu erleben, dass die Mehrzahl aller Entscheidungen im Bundestag ohne Gegenstimme oder sogar einstimmig getroffen wird. Wenn ich mich richtig erinnere, sind dies ungefähr 80 % aller Entscheidungen. Sehr viele Entscheidungen finden eine breite Mehrheit, nur ganz wenige Entscheidungen sind sehr strittig. Oft empfinden wir die wenigen strittigen als die Wichtigsten, weil in Presse, Web, Fernsehen und Funk, darüber besonders viel berichtet wird. Wie überhaupt viel mehr über die strittigen Diskussionen berichtet wird als über die Gemeinsamkeiten, obwohl für unsere Gesellschaft Entscheidungen, die mit breiter Mehrheit getroffen werden, ebenso wichtig sind.

Ihre Frage zielt auf die wenigen sehr strittigen und wichtigen Fragestellungen. Ich denke aktuell dabei etwa an den Einsatz der Atomenergie, an die Frage, ob sich Deutschland am Irakkrieg beteiligen soll, ob wir genveränderte Pflanzen anbauen und essen sollen, in welchem Maße die Gemeinschaft den Schwachen in unserer Gesellschaft helfen soll, ob wir in Deutschland PID (Pränatale Implantationsdiagnostik) erlauben sollen, ob die Bahn privatisiert werden soll, ob die Bildungschancen für alle Kinder gleich sein sollen oder ob die Steuern nach mehrfacher Absenkung weiter gesenkt werden sollen oder nicht. Es gibt auch Fragestellungen ganz anderer Art, etwa beim Umzug des Bundestags nach Berlin: Sollte er dann Reichstag heißen, weil er doch im Reichstag tagt? Sollte der Reichstag künftig Bundestag heißen? Wolfgang Thierse hatte dann die Idee: Bundestag im Reichstag.

Schon bei diesen wenigen Beispielen fällt auf, dass die Fragestellungen sehr unterschiedliche Qualität haben. Ich unterscheide Geschmacksfragen von Sachfragen mit und ohne grundsätzlicher Bedeutung und Gewissensfragen.

Nun möchte ich zunächst Fraktionsdisziplin in einer Weise betrachten, wie Sie an den Begriff vermutlich nicht gedacht haben:

Ich verwende bevorzugt den Begriff: Gruppendruck. Ihn gibt es auf zweifache Weise: Wenn z.B. ein Dutzend Kolleginnen und Kollegen die Abstimmungsmehrheit einer ganzen Fraktion oder Koalition dominieren. Stellen Sie sich einmal folgende Konstellation vor: Die Mehrheit in der Fraktion ist für ein Gesetz; der Fraktionsvorsitzende Peter Struck fragt, wer dagegen ist, und 12 Hände gehen hoch. Das muss zu denken geben, denn es könnte ja sein, dass dieses Gesetz in 12 Wahlkreisen oder Regionen Deutschlands zu größeren Problemen führt, die von der Mehrheit bisher nicht gesehen wurden. Die Entscheidungsfindung in der Fraktion wird unterbrochen. Dann sollten sich die 12 mit den Fachleuten für das Gesetz treffen und es so verändern, dass die Probleme gelöst sind - wir hoffen dann natürlich, dass dann nicht 12 andere Fraktionskolleginnen oder -kollegen mit der neuen Formulierung Probleme haben. Jedenfalls führt dieser Prozess dazu, dass unsere Gesetze fast immer von 100% aller Fraktionsmitglieder getragen werden. Solche Ergebnisse sehen stark nach "Fraktionsdisziplin" aus, wenn man die Entstehungsgeschichte der Entscheidung nicht kennt.

Bei der Meinungsbildung und Abstimmung in der Fraktion erleben wir natürlich auch häufig Gruppendruck in die andere Richtung, wenn die Mehrheit sich gegenüber der Minderheit durchsetzt. Vertritt man in der Aussprache in der Fraktion eine abweichende Meinung, wird man tausendfach gefragt, ob man sich das wirklich gut überlegt habe; warum man keinen Antrag gestellt habe; warum man das nicht eher gesagt habe, warum man zuerst im Fernsehen und dann mit der Fraktion geredet habe etc. etc.

Das erzeugt Druck, sich der Mehrheit in der Fraktion anzuschließen. Diesen Druck gibt es allerdings nicht nur in der Fraktion, sondern an wahrscheinlich fast jedem Arbeitsplatz, etwa wenn ein Vertriebsbeauftragter das Produkt der eigenen Firma schlecht macht, aber nicht bereit ist zu kündigen. Allerdings gilt auch dort: das Lob der Konkurrenz ist diesem Mitarbeiter sicher. Dennoch wird er nur in den seltensten Fällen ein Angebot der Konkurrenz erhalten, denn auch dort sind solche Verhaltensweisen nicht wirklich erwünscht.

Natürlich wird der Fraktionsvorsitzende vor der Abstimmung alles tun, um die Fraktion von einer einheitlichen Meinung zu überzeugen. Das ist seine Aufgabe. Andernfalls würde eine Regierung ihre Regierungsfähigkeit in kürzester Zeit verlieren. Aber zwingen kann er kein einziges Mitglied der Fraktion. Das versucht er auch nicht wirklich. Deshalb ärgern mich auch Äußerungen, die den Anschein erwecken, der Fraktionsvorstand hätte solche Druckmittel.

Aber es gibt Abstimmungen in der Fraktion, in denen sich Mehrheiten für bestimmte Gesetzesentwürfe abzeichnen und durchgesetzt werden. Gehört man selbst zur Minderheit und glaubt die besseren Argumente auf seiner Seite zu haben, ist das vielleicht enttäuschend oder sogar ärgerlich. Im Allgemeinen ist die Entscheidungsfindung per Mehrheitsbeschluss für den Unterlegenen allerdings leicht zu ertragen, denn wir wissen: wenn die Meinungen auseinandergehen und sich keine Seite von den Argumenten der Gegenseite überzeugen lässt, ist es in einer Demokratie der einfachste und gerechteste Weg zu einer Entscheidung, den Willen der Mehrheit zu akzeptieren. Dieses Verfahren beruht im Kern darauf, dass jede einzelne Stimme gleich viel zählt - ein Kernelement jedes demokratischen Regierungssystems. Demokratie ist der Wettstreit unterschiedlicher Positionen, der häufig mit einer Mehrheit in einer Abstimmung entschieden wird.

Mit seiner eigenen Meinung in einer Abstimmung zu unterliegen bedeutet daher nach meinem Verständnis auch, sich später der Mehrheit anzuschließen und deren Entscheidung zu respektieren. Sonst bräuchte ich ja an der Abstimmung nicht teilzunehmen, weil sowieso klar wäre, dass ich unabhängig von der Mehrheitsentscheidung machte, was ich will. Das gilt auch in einer Fraktion.

Nun kommt das in der Fraktion beschlossene Gesetz ins Plenum des Deutschen Bundestages. Dort stimme ich im Regelfall so ab, wie die Mehrheit in der Fraktion beschlossen hat. Andernfalls würde ich mit der Opposition stimmen, also eine Gruppe stärken, deren Vorschläge meistens noch weiter entfernt sind von meinen eigenen Vorstellungen als die der Mehrheitsmeinung in der eigenen Fraktion. Abgesehen davon ist auch ein Restzweifel über die eigenen Erkenntnisse und Meinungen erlaubt, wenn diejenigen, mit denen ich die grobe Richtung, wie Gesellschaft zu entwickeln ist, teile, mit 245 zu 5 Stimmen anders entscheiden als ich. Es könnte ja auch sein, dass die Mehrheit meiner Fraktion das Richtige denkt und ich das Falsche.

Der Gruppendruck, der im Mehrheitsprinzip angelegt ist, ist nicht nur wichtig, damit eine Fraktion - oder jede andere soziale Gruppe - überhaupt verbindliche Entscheidungen treffen kann. Er dient auch als Ansporn, die Regierungsfähigkeit, Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit der eigenen Fraktion bzw. der gesamten Koalition zu unterstreichen. Regierungen und die sie tragenden Fraktionen brauchen häufig einen langen Atem, um ihre Ziele zu formulieren, Gesetze zu beschließen, Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die Anwendung des Gesetzes zu überwachen und die Ergebnisse zu überprüfen.

Der Abgeordnete einer Fraktion, die heute so, morgen so entscheidet, wird große Probleme haben, diesen Wankelmut im Wahlkreis zu begründen. Schließlich hat er von seinen Wählern einen demokratischen Gestaltungsauftrag erhalten; damit wird ihm auch sehr viel Verantwortung anvertraut. Diesem Vertrauen wird er allerdings meiner Einschätzung nach nicht gerecht, wenn er sich ohne aufrichtigen, ernst gemeinten Grund der Mehrheit seiner Fraktion entgegenstellt und ihre Entscheidungsfindung leichtfertig behindert oder sogar blockiert. Letztendlich schadet er damit nur "seiner" Regierung, die er ja selbst gewählt hat und die sich nun auf seine Unterstützung nicht verlassen kann.

Gelegentlich beschleicht mich dann der Verdacht, dass die Beschädigung der eigenen Regierung, der Ministerinnen und Minister, der Fraktionskolleginnen und - kollegen, vor allem aber der eigenen Wählerinnen und Wähler aus einem ganz bestimmten Grund wissentlich in Kauf genommen wird: um in die Presse zu kommen, in die Medien, um den Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Leider ist für das Wahlverhalten vieler Manschen die Bekanntheit wichtiger als die Leistung.

Verdächtig finde ich es etwa, wenn jemand ganz fest gegen die Mehrheit steht, ohne einen eigenen Antrag, d.h. Gegenvorschlag, eingebracht zu haben. Ohne eigenen Antrag ist die bloße Ablehnung doch recht einfallslos. Oder doch nicht? Stimmt. Es gibt nämlich allzu oft ganz andere Motive, sich gegen die Mehrheit der Fraktion zu stellen. Gewissen? Einsatz für Gerechtigkeit? Pazifismus? - Von wegen!

Wie schon kurz erwähnt: Es gibt für die Fernsehsender, viele Zeitungen und Rundfunksender nichts Spannenderes, als über "Abweichler" zu berichten. Auch wenn kein eigenes Konzept vorliegt, ist alleine schon die Tatsache, dass man Streit im eigenen Haus erzeugt, eine Nachricht wert. Und leider wird dies dann in der Öffentlichkeit oft mit Mut, Eigenständigkeit und dem wahren Kampf um Gerechtigkeit übersetzt. Dabei ist es nicht nur im Wahlkreis sehr einfach, überall für sein Engagement gegen die eigene Fraktion gelobt zu werden, weil man ja sein Konzept nicht unter Beweis stellen muss. Ein nicht vorgelegtes Konzept tut auch niemandem weh.

Die Fraktionsmeinung zu Hause zu vertreten, ist dagegen nicht immer ein Zuckerschlecken, weil damit möglicherweise alte Gewohnheiten, Vorteile, Sonderzuwendungen etc. aufgehoben werden müssen. Man muss erklären, warum diese Einschnitte erforderlich sind, warum man selbst nicht ganz der gleichen Meinung wie die Mehrheit ist, aber gleichwohl die Mehrheitsmeinung in der Plenumsabstimmung stützt - alles lästig, ärgerlich, kompliziert. Es lohnt sich also anscheinend immer, ein "Abweichler" zu sein. Man kommt in die Bundesmedien, wird überwiegend gelobt und braucht nichts zu beweisen, weil die eigene Position ja nicht mehrheitsfähig ist. Dies funktioniert auch deshalb auf diese Weise, weil die persönlichen Vorteile durch ein Gesetz viel schwächer wahrgenommen werden, als die evtl. damit verbundenen Nachteile.

Der Hauptvorteil dieses Verfahrens liegt darin, dass die Bekanntheit im Wahlkreis steigt, sich damit die eigenen Wahlchancen verbessern, aber die Chancen der eigenen Gruppe, der man ursprünglich das Mandat verdankt, weil man dort zur Wahl aufgestellt wird und auch im Wahlkampf großartige Unterstützung erhält, vermindert werden. Ich empfinde es als sehr unfair, auf diese Weise und auf Kosten anderer seine eigene Position zu verbessern.

Allerdings stört mich dabei das oben erwähnte Wort "Abweichler". Abweichler klingt so, als ob die Abweichung einem Fehler, einer Fehlentscheidung entspräche. Aber das ist eben auch nicht immer der Fall. Manchmal liegt die Fehlentscheidung auch bei der Mehrheit. In einem Fall, der mich persönlich betrifft, war ich mit einer kleinen Minderheit gegen die Abschaffung der Pendlerpauschale und habe später durch das Bundesverfassungsgericht Recht bekommen. Dies war für mich eine Sachfrage ohne grundsätzliche Bedeutung, denn in einem anderen steuerlichen Bezugssystem, könnte ich mir sogar vorstellen die Pendlerpauschale aus ökologischen Gründen abzuschaffen - allerdings gäbe es in diesem System eine anderen Ausgleich für die Wegekosten der Arbeitnehmer.

In diesem Fall ist es noch etwas komplizierter: Ich habe ein "Erklärung nach § 39 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages" abgegeben, dass ich für die Beibehaltung der Pendlerpauschale bin. Damit war meine Meinung dokumentiert - solche Erklärungen dienen manchmal dem Gericht bei der Entscheidungsfindung und sind deshalb wichtiger als es auf den ersten Blick aussieht. Außerdem kennen dann die Bürgerinnen und Bürger meine Meinung bzw. mein Abstimmungsverhalten in der eigenen Fraktion. Im Plenum des Bundestages habe ich aber einheitlich mit der großen Koalition gestimmt, weil dieses Abstimmungsverhalten mehrheitlich in den Fraktionen beschlossen worden war. Eine Erklärung nach § 39 hilft also, wenn man sich nur schweren Herzens der Mehrheitsmeinung in der Abstimmung anschließt.

Wäre die Entscheidung über die Pendlerpauschale eine Gewissensentscheidung gewesen, hätte ich auch im Plenum mit Nein gestimmt, dann hätte ich allerdings keine Erklärung nach § 39 abgegeben, weil im Protokoll ja mein Abstimmungsverhalten direkt ablesbar gewesen wäre. Allerdings gibt es bei Gewissensentscheidungen keine (Vor-)Entscheidungen in der Fraktion - und es ist ein kleines Wunder, dass es sich fast immer von selbst versteht, was eine Gewissensentscheidung ist. Die Entscheidung über die Zulassung der PID oder auch Fragen zur Patientenverfügung sind z.B. Gewissensentscheidungen.

In diesen Fällen sagen wir: "die Abstimmung wird frei gegeben". Ich denke, dass aus dieser Formulierung "frei gegeben" abgeleitet wird, dass wenn eine Abstimmung nicht "frei gegeben" ist, sei sie "erzwungen", ein Fraktionszwang. Tatsächlich bedeutet diese Formulierung aber nur, dass die Fraktion bzw. der Fraktionsvorsitz nicht versucht, eine einheitliche Meinung herzustellen. Interessanterweise verhalten sich praktisch alle Fraktionen in diesen Fällen ähnlich und fast immer gibt es eine Konsens darüber wann eine Gewissensentscheidung vorliegt.

Sich auf Kosten anderer seine eigene Position zu verbessern gilt selbstverständlich häufig auch nicht. Hier ein Beispiel für eine Entscheidung über einer Sachfrage mit grundsätzlicher Bedeutung: Mit einigen anderen habe ich gegen die Gesundheitsreform der rot/grünen Koalition gestimmt, aber ohne viel Aufhebens davon zu machen Es gibt Überzeugungen, die mit der Mehrheitsmeinung einfach nicht in Einklang zu bringen sind. Damals ging es um die Budgetierung ("Deckelung") der Arzthonorare, eine Grundüberlegung die ich für falsch halte. Weil mir die Begründung für meine Abstimmung sehr wichtig war, habe ich auch hier eine Erklärung nach § 39 der Geschäftsordnung abgegeben. Darin habe ich erläutert, dass ich keine Mehrheit in der Fraktion fand und deshalb gegen meine Überzeugung mit der Mehrheit der Fraktion stimme, weil die Demokratie ja nicht teilbar ist und die Mehrheitsentscheidung in der Fraktion ebenso von Bedeutung ist wie die Mehrheit im Plenum. Die Erklärung kam ebenfalls in das Protokoll der Bundestagssitzung und ist als Ausgangsbasis für die künftige Politikentwicklung verfügbar.

Abschließend möchte ich noch einen Gedanken zu Solidarität in einer Fraktion beitragen. So wie ich vielleicht in einem speziellen Fall darauf angewiesen bin, dass alle in meiner Fraktion einem bestimmten Vorschlag der mir wichtig ist im Plenum zustimmen, so muss ich auch bereit sein im Regelfall der Mehrheitsmeinung zu folgen, wenn ein Kollege oder eine Kollegin eine Vorschlag einbringt, der mehrheitlich in der Fraktion beschlossen wird, mir aber eigentlich nicht gefällt.

Von großer Bedeutung sind diese Überlegungen bei knappen Mehrheiten. Angenommen, die Regierungskoalition hat im Plenum eine Mehrheit von nur 6 Stimmen: Die Regierungskoalition hätte zusammen 309 Stimmen, die Opposition zusammen 303 Stimmen Wenn in der eigenen Fraktion nur 3 Mitglieder gegen einen Gesetzesentwurf der Koalitionsfraktionen oder der Regierung sind - und gemäß dieser Ablehnung in der Fraktion auch im Plenum abstimmen würden, dann hätte der Regierungsvorschlag 306 Stimmen und der Ablehnungsvorschlag der Opposition ebenfalls 306 Stimmen, das Gesetz wäre abgelehnt, weil es keine Mehrheit gefunden hat. Bei knappen Mehrheiten können also sehr wenige Abgeordnete die Mehrheiten im Bundestag gegen die Regierung wenden und die Regierungsfähigkeit gefährden. Auch deshalb ist die Solidarität in einer Fraktion so wichtig.

Falls Sie in Ihrer Klasse meine Antwort in einem Gespräch erörtern möchten, komme ich auch gern in die 10b des Carl-Benz-Gymnasiums nach Ladenburg.

Viele Grüße, Ihr und Euer Lothar Binding