Frage an Lothar Binding von Al B. bezüglich Gesundheit
Mit welcher Begründung haben Sie der Verlängerung des Gesetzes zur epidemischen Lage um weitere drei Monate zugestimmt? Wo genau haben Sie diese Gründe kommuniziert?
Sehr geehrter Herr Brunner,
vielen Dank für Ihre Frage hier bei Abgeordnetenwatch zur Feststellung der epidemischen Lage. Da wir nun seit über einem Jahr mit verschiedenen Lock-Downs und Einschränkungen leben müssen, kann ich gut nachvollziehen, wenn Sie lieber weniger Restriktionen hätten. Glauben Sie mir, wir alle möchten die Pandemie schnell hinter uns lassen. Allerdings bedeutet „Feststellung der epidemischen Lage“ ja nicht „Restriktionen“ – sie schafft nur die Option, schnell Restriktionen zu erwirken um Leben zu retten. Nun etwas genauer:
Um die aktuelle Debatte nachzuvollziehen, sollten wir uns zunächst die Definition einer sogenannten „Epidemische Lage von nationaler Tragweite“ anschauen, wie sie aktuell im Gesetz definiert ist (ich zitiere nach § 5 Infektionsschutzgesetz) [1].
Eine epidemische Lage von nationaler Tragweite liegt vor, wenn eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland besteht, weil
1. die Weltgesundheitsorganisation eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite ausgerufen hat und die Einschleppung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit in die Bundesrepublik Deutschland droht oder
2. eine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder in der Bundesrepublik Deutschland droht oder stattfindet.
Leider sind wir für eine Aufhebung der epidemischen Lage noch nicht da, wo wir sein müssen. Die Inzidenzrate geht runter, liegt bei tagesaktuell 19 Fällen pro 100.000 Einwohner und damit in einem Bereich wie teilweise im Oktober oder April letzten Jahres. Es geht voran, aber es ist noch nicht vorbei. Gerade, weil wir in anderen Ländern mit mehr Lockerungen – beispielsweise dem Vereinigten Königreich – aktuell einen besorgniserregenden Anstieg der Fallzahlen beobachten. Noch sind nicht genügend Menschen für eine Herdenimmunität geimpft (aktuell etwas über 20% mit vollem Impfschutz), noch gibt es zu viele regional Hotspots, die weit über dem Bundestrend liegen. Noch ist das Virus in unseren Nachbarländern zu verbreitet und kann wieder eingeschleppt werden. Ein weiterer Grund, jetzt noch nicht locker zu lassen ist das Auftreten neuer Mutationen, die sich in Europa durchsetzen (z.B. B.1.1.7 (Alpha), B.1.351 (Beta), P.1. (Gamma), B.1.617 (Delta/Kappa)). Wir müssen davon ausgehen, dass es zu weiteren Mutationen kommen wird, eventuell auch Varianten, gegen die bestimmte Impfstoffen nicht wirken. Die Wahrscheinlichkeit für Mutationen steigt mit der Anzahl der Infektionen, was eine geringere Inzidenzrate nötig macht, bevor wir umfänglich Maßnahmen des Infektionsschutzes abschaffen können.
Unsere Pandemiepolitik basiert auf Grundlage der Beratung durch Institutionen wie das Robert-Koch Institut oder die World Health Organization, die aktuell vor überstürzten Entscheidungen wegen sinkender Fallzahlen warnen [2]. So schätzt das RKI beispielsweise das Risiko in der Pandemie auf „hoch“ ein (zuvor bis 1. Juni „sehr hoch“), unter anderem, weil in den meisten Kreisen noch keine konkrete Nachverfolgung von Infektionen möglich ist. Wir haben das Virus also noch lange nicht unter Kontrolle. Auch die WHO beschreibt die Lage in Europa als zu fragil, um die Epidemie für beendet zu erklären.
All das bedeutet nun aber nicht, dass keine Lockerungen möglich sind. Ganz im Gegenteil: Mittlerweile können wir wieder Restaurants besuchen, freier reisen, uns in größeren Gruppen treffen und vieles mehr. Es ist schön, wieder das Leben in den Straßen und Cafés zu sehen, Sie stimmen mir hier sicherlich zu – trotz der oben erwähnten Beschlusslage. Außerdem ist es dem Parlament weiterhin zu jeder Zeit möglich, die Notlage als nicht mehr gegeben anzusehen. Diesen Zustand um weitere drei Monate zu verlängern heißt also nicht, dass uns für diese Zeit die Hände gebunden sind.
Die kostenlosen Tests, die voranschreitende Impfkampagne, und die Tendenz der Ansteckungszahlen weisen in die richtige Richtung. Sehr lange wird es hoffentlich nicht mehr dauern, bis wir die Pandemie als eine schreckliche, aber abgeschlossene Episode betrachten können. Um eine vierte Welle und erneute striktere Beschränkungen im Zweifelsfall verhindern zu können, habe ich der Verlängerung der epidemischen Lage zugestimmt.
Mit freundlichen Grüßen, Lothar Binding
Meine Quellen:
[1]
§ 5 IfSG - Epidemische Lage von nationaler Tragweite - dejure.org
[2]
WHO/Europa | Ausbruch der Coronavirus-Krankheit (COVID-19) - Erklärung – COVID-19: Fragile Fortschritte
RKI - Coronavirus SARS-CoV-2 - Risikobewertung zu COVID-19
Lothar Binding