Frage an Lothar Binding von Bodo M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Binding,
für Ihre schnelle Antwort danke ich Ihnen. Dies und der Mut zur Aussage, dass Sie auf wissenschaftliche Absicherung bei Ihrer Politik verzichten, verdient großen Respekt, letzteres aber noch größere Verwunderung, nein Bestürzung. Sie haben sicherlich bei der Aufzählung der moralischen Kategorien meine Unterstützung. Mir ist allerdings unbegreiflich, wie ein Abgeordneter freiwillig zugibt, auf die wissenschaftliche Absicherung seines Handelns zu verzichten. Somit wird mir erneut vor Augen geführt, dass von unseren Abgeordneten Gesetze mit für die Beteiligten gravierenden Auswirkungen beschlossen werden, ohne dass man sich wissenschaftlich absichert.
Leider haben Sie meine Frage zum von Pro rauchfrei.de aufgerufenen Denunziantentum und „unserer dunklen Vergangenheit“ nicht beantwortet, denn an die Problematik einer „Sturm-Zigarette der SA“ hatte ich dabei wirklich nicht gedacht. Oder kann ich Ihre Aussage, dass sich 99,x % der Raucher an die Gesetze halten so deuten, dass Sie dieses Denunziantentum bzgl. der restlichen 0,x % unterstützen?
Dazu habe ich im Internet eine interessante Aussage eines anderen besorgten Bürgers gefunden: Hoffmann von Fallersleben, Verfasser des Liedes der Deutschen, urteilte scharf über dieses Thema: "Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant." Der Denunziant, der hinter dem Rücken des Beschuldigten etwas zur Anzeige bringt, wählt den für ihn sicheren Umweg. Statt sich an den Raucher zu wenden und ihn zu bitten, das Rauchen einzustellen, wird mit der Internet-Denunziation die Tradition verlängert, Probleme durch feigen Umweg zu lösen.
Vor diesem Hintergrund, bin ich schon erstaunt, dass Sie als ein Politiker, der behauptet, er lasse sich von moralischen Kategorien in seinem Handel leiten, nicht den Mut aufbringt, das Handeln von Pro rauchfrei e.V. zu verurteilen.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir eindeutig eine Antwort zu der Aktion von Pro rauchfrei.de geben würden.
Bodo Mehrlein
Sehr geehrter Herr Mehrlein,
Sie schreiben: “für Ihre schnelle Antwort danke ich Ihnen. Dies und der Mut zur Aussage, dass Sie auf wissenschaftliche Absicherung bei Ihrer Politik verzichten, verdient großen Respekt,...“ Aber um Gotteswillen, wie kommen Sie denn darauf? Ich denke, es sind oft diese leichtfertigen Fehlinterpretationen, die zu Missverständnissen führen. Und übrigens: hätte ich das tatsächlich geschrieben, verdiente dies keinen Respekt sondern der Korrektur.
Ihre frühere Frage – die nicht ganz frei von Unterstellungen, auf die ich nicht eingehe – habe ich eingangs wie folgt beantwortet: „Ich bin dafür, dass der Gesunde für den Kranken eintreten soll, der Starke für den Schwachen, der Junge für den Alten, der Erfahrene für den Unerfahrenen und so fort. Ich bin einseitig für soziale Gerechtigkeit, dafür dass die Gesundheit gegen ihre leichtfertige Gefährdung geschützt wird, dafür dass jeder Mensch in Würde alt werden kann und jung sein darf, dafür dass die Freiheit einseitig gegenüber jenen geschützt wird, die sich Freiheitsrechte auf Kosten anderer Menschen nehmen. Und Sie haben auch Recht: dabei verzichte ich auf wissenschaftliche Absicherung - mir genügen die für mich maßgeblichen moralischen Kategorien.“
Wie können Sie aus diesen Aussagen ableiten „dass Sie auf wissenschaftliche Absicherung bei Ihrer Politik verzichten…“? Im Gegenteil: Meine Art politisch zu arbeiten stellt wissenschaftliche Erkenntnisse in den Mittelpunkt. Aber meine Denkweise, dass ich dafür bin „dass die Freiheit einseitig gegenüber jenen geschützt wird, die sich Freiheitsrechte auf Kosten anderer Menschen nehmen“ oder dass „der Starke für den Schwachen“ eintreten soll und so weiter, hat sich ausgebildet lange bevor ich überhaupt von Wissenschaft wusste. Auch meine Zuneigung zu den Menschen lässt sich nicht wissenschaftlich begründen oder widerlegen. Dass mir die Gesundheit anderer Menschen wichtig ist, meine eigene natürlich auch, entzieht sich wissenschaftlicher Erkenntnis.
Allerdings rückt wissenschaftliche Absicherung sofort in den Mittelpunkt meiner Arbeit, wenn es politisch darum geht, die Gesellschaft so zu organisieren, dass die Gesundheit der Menschen tatsächlich so gut wie möglich geschützt wird. Nehmen Sie z.B. die hohen Risiken, die von den Verbrennungsprodukten des Tabaks für alle Menschen, die davon kontaminiert werden, ausgehen. Da helfen dann die Gastheorie aus der Physik, die Analysemethoden von Giften in der Chemie, die Krebsforschung, die Genforschung, die Medizin. Auch die Stochastik in der Mathematik. Aber eigentlich bräuchte ich mich darum nicht zu kümmern, denn die Hersteller von Zigaretten bestreiten nicht, dass sie ein gefährliches Produkt mit hunderten weiterer Zusatzstoffe anbieten. Aber, so fügen sie stets hinzu, zur Freiheit gehöre auch die Freiheit sich für ein giftiges Produkt entscheiden zu dürfen, es produzieren zu dürfen, zu vertreiben, zu bewerben etc.
Hier nun rückt wieder wissenschaftliche Erkenntnis in den Mittelpunkt meiner Arbeit. Die Philosophie. Ich kenne keinen wissenschaftlich tragfähigen Versuch die Definition von Freiheit, als einen Zustand, in dem keine von anderen Menschen ausgehenden Zwänge ein Verhalten dominieren, erschweren oder verhindern, zu widerlegen. Das entspricht meinem umgangssprachlichen Freiheitsbegriff, dass die Freiheit des einen dort aufhört, wo die Freiheit des anderen beginnt.
Durch Kombination der einfachen wissenschaftlichen Erkenntnisse aus Physik, Chemie etc. wie oben angedeutet mit der wissenschaftlich begründbaren Definition von Freiheit, wird unmittelbar deutlich, warum das Rauchen bzw. die Verbreitung von Rauch verboten werden müsste: Einerseits zum Schutz der Gesundheit, andererseits um keine von anderen Menschen ausgehenden Zwänge auszuüben, die ein Verhalten erschweren, dominieren oder verhindern.
Allerdings folge ich hier der wissenschaftlichen Vernunft nicht vollständig, weil es meiner Erfahrung entspricht, dass politische Arbeit nicht allein wissenschaftliche Rationalität abbilden kann. Oft dauert es einige Generationen, bis gesellschaftlich möglich wird, was in der Wissenschaft schon lange bekannt. Die Lust eines Rauchers, sein Zwang oder seine Sucht ist eben nicht einfach durch wissenschaftliche Erkenntnis zu überwinden. Deshalb muss sich Realpolitik manchmal mehr Zeit nehmen als gut ist. Hier ist das Rauchen aber nur ein winziges Beispiel. Nehmen Sie die ungeklärte Endlagerung von radioaktiven Abfällen aus Atomkraftwerken. Aber wir haben schon einmal fleißig produziert. Oder nehmen Sie die Endlichkeit der fossilen Rohstoffe. Aber wir haben schon mal fleißig davon verbraucht. Die Existenz der Erde und das Überleben des Gattungswesens Mensch sind eben doch recht abstrakt.
Bitte entschuldigen Sie meinen kleinen Exkurs. Aber ich wollte Ihnen – nach Ihrer sicher ungewollten Fehlinterpretation – ein Gefühl dafür geben, wie ich versuche Wissenschaft und Politik miteinander zu verbinden.
Irritierend in Ihrem Text ist die Formulierung: „…dass von unseren Abgeordneten Gesetze mit für die Beteiligten gravierenden Auswirkungen beschlossen werden, ohne dass man sich wissenschaftlich absichert“. Abgesehen davon, dass ich nichts von Gesetzen geschrieben habe, frage ich doch, wie es zu einer solchen fehl gelenkten Verallgemeinerung kommen konnte.
Sicher besuchen Sie einmal Berlin. Und bevor es erneut zu Fehlinterpretationen kommt, biete ich Ihnen an, gelegentlich, nach terminlicher Abstimmung, in Berlin über Ihre weiteren Fragen zu sprechen. Mir scheint es unabdingbar zu sein Ihren Begriff von „Denunziantentum“ genauer zu kennen, bevor ich mit Ihnen darüber einen Gedankenaustausch führe.
Auf der Basis meines Verständnisses von „Denunziantentum“ bin ich dagegen, wo immer es auftaucht.
Mit freundlichen Grüßen, Ihr Lothar Binding