Portrait von Lothar Binding
Lothar Binding
SPD
Zum Profil
Frage stellen
Die Frage-Funktion ist deaktiviert, weil Lothar Binding zur Zeit keine aktive Kandidatur hat.
Frage von Tim M. •

Frage an Lothar Binding von Tim M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Binding,

mit Entsetzen habe ich in der Erklärung des Abstimmungsverhaltens einiger SPD-Abgeordneten, unter anderem auch Ihnen, den folgenden Satz entdeckt:

"Eine Zustimmung ist auch deshalb vertretbar, weil davon auszugehen ist, dass in absehbarer Zeit eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise verfassungswidrige Bestandteile für unwirksam erklären wird."
http://dip.bundestag.de/btp/16/16124.pdf

Bedeutet dies, dass Sie und einige Kollegen diesem Gesetz zugestimmt haben, obwohl Sie davon überzeugt sind, dass Teile davon verfassungswidrig sind?

Falls ja, so bin ich schockiert. Ich habe Abgeordneten ja bisher einiges zugetraut, aber die vorsätzliche Verabschiedung von verfassungswidrigen Gesetzen überbietet alles.
Art. 1 Abs. 3 GG bindet den Gesetzgeber an das Grundgesetz. Dies steht in krassem Gegensatz zu Ihrer Stimmabgabe.

Ich bitte Sie, zu diesem Thema Stellung zu nehmen und verbleibe

mit freundlichen Grüßen
Tim Mutscher

Portrait von Lothar Binding
Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Mutscher,

vielen Dank für Ihre Frage. Ihre Wortwahl ist aber wohl ein wenig zu gewaltig, gemessen an der mageren inhaltlichen Bestimmtheit Ihrer Kritik und der falschen Ableitung Ihrer Überlegung. „Mit Entsetzen“ haben Sie entdeckt, Sie sind „schockiert“, formulieren „vorsätzliche Verabschiedung“. Dieser Stil erinnert mich an die vielen Massenmails, die leicht variiert von irgendeiner Website übernommen und hundertfach an Abgeordnete geschickt wurden. Diese Art der Kommunikation behindert den sachlichen und politischen Meinungsaustausch erheblich. Gerne erläutere ich Ihnen daher die Gründe für mein Abstimmungsverhalten.

Die Verfassungsfestigkeit von Gesetzen, die im Bundestag verabschiedet werden, stellen die sog, Verfassungsressorts, die Bundesministerien des Inneren und der Justiz, sicher. Kein Gesetzentwurf, der nach dieser Prüfung als nicht verfassungskonform eingestuft wird, erreicht die zweite und dritte Lesung. Nun gibt es tatsächlich gelegentlich Meinungsunterschiede über die Verfassungsfestigkeit. Ich meine damit nicht das stereotype Muster der politischen Auseinandersetzung: willst Du ein Gesetz verhindern, behaupte zunächst einmal seine Verfassungswidrigkeit.

Nein, manchmal gibt es berechtigte Zweifel, oft auch von Nicht-Juristen. Auch im aktuellen Kontext der Vorratsdatenspeicherung haben mir einige Bürgerinnen und Bürger ernsthafte Briefe geschrieben, in denen sie Vermutungen über die Verfassungsfestigkeit des Gesetzes anstellten. Auch ich hege einen Restzweifel, ob das Gesetz in all seinen Teilen verfassungskonform ist. Gerade deshalb habe ich dem Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG zugestimmt, denn eine Klärung der Verfassungsmäßigkeit kann nur das Bundesverfassungsgericht leisten. Der Hüter der Verfassung kann allerdings nur auf Grundlage eines konkreten Gesetzes tätig werden – denn wo kein Gesetz, da kein Kläger und erst recht kein Richter.

Diese Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative hat sich als großer Vorteil für die Stabilität unserer Demokratie erwiesen. Regierung und Parlament regeln über Gesetze und Verordnungen die Lebenszusammenhänge aller Bürgerinnen und Bürger, das Verfassungsgericht prüft die Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtsakte. Diese Zusammenarbeit ist ein zentraler Mechanismus der sorgsamen Weiterentwicklung und des Schutzes unseres Rechtssystems. Sie erleichtert mir die Zustimmung zu diesem Gesetz, denn verfassungswirksame Teile werden mit einer entsprechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unwirksam – eben ohne Wirkung.

Sie ziehen in Ihrem Schreiben einen voreiligen Schluss, der sich aus meiner Erklärung logisch nicht ableiten lässt. Aus meiner Aussage „möglicherweise verfassungswidrige Teile“ wird bei Ihnen die Formulierung „davon überzeugt sind, dass Teile davon verfassungswidrig sind“. Im nächsten Schritt generieren Sie daraus dann die Behauptung einer „vorsätzliche[n] Verabschiedung von verfassungswidrigen Gesetzen…“. Sie leiten aus meinen öffentlich vorgetragenen, vorsichtigen Überlegungen Ihr eigenes Vorurteil – eine Vorverurteilung – ab. Diese Irreführung der Öffentlichkeit finde ich nicht fair und nicht korrekt.

Auch Ihre Wortwahl ist einer sachlichen Auseinandersetzung nicht angemessen. Ihre Formulierung „Mit Entsetzen habe ich […] entdeckt“ deutet an, Sie hätten etwas Verborgenes gefunden. Meine Kolleginnen und Kollegen und ich haben unser Abstimmungsverhalten aber begründet und im Bundestagsprotokoll öffentlich zugänglich gemacht.
Ich denke, wer sich wie Sie in solcher Art mit der Gesetzgebung – gerade in solch sensiblen Bereichen wie dem Schutz der Persönlichkeitsrechte – befasst, erweist allen Bürgerinnen und Bürgern in einem freiheitlichen Rechtsstaat einen Bärendienst.

Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Lothar Binding