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Frage von Sebastian S. •

Frage an Lothar Binding von Sebastian S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Binding,

sind Sie, wie auch ihr Koalitionskollege Dr. Schäuble der Meinung, dass zur Bekämpfung des Terrorismus die Bürgerrechte abgeschafft oder zumindest drastisch eingeschränkt gehören?

Ist Ihnen bewusst, dass das Grundgesetz nach dem zweiten Weltkrieg bewusst entworfen wurde, um die Bürger vor dem Staat zu schützen und nicht umgekehrt?

Haben Sie das Buch "1984" von George Orwell gelesen?

Wie wollen Sie garantieren, dass solche massiven Grundrechtsbeschneidungen wie zum Beispiel die oft erwähnte Onlinedurchsuchung oder auch der Einsatz von nachgewiesenerweise manipulierbaren Wahlmaschinen nicht von einer zukünftigen Regierung (oder auch von korrupten Staatsbediensteten) misbraucht werden wird?

Mit freundlichen Grüßen,
Sebastian Sproesser

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Sproesser,

vielen Dank für Ihr Schreiben, das ich gerne beantworte. Ihre grundsätzliche Sorge um die Einschränkung von Bürgerrechten bei der Bekämpfung von Terrorismus und Organisierter Kriminalität teile ich. Bedenken habe ich bei Themen wie der Onlinedurchsuchung und vor allem der sog. Vorratsdatenspeicherung.

Präzise Kenntnisse sind für meine eigene Einschätzung dieser juristisch und politisch komplexen Sachlage notwendig. Meine Ausführungen stützen sich daher auf Informationen der Arbeitsgruppe Rechtspolitik der SPD- Fraktion im Deutschen Bundestag sowie auf eigene Recherchen. Auf diesen Grundlagen mache ich mir ein Bild von den Argumenten der Befürworter und Gegner der Vorratsdatenspeicherung und der Onlinedurchsuchung.

Für eine wirksame Verfolgung und Bekämpfung von Straftaten sei der verdeckte Zugriff auf Telekommunikationsverkehrsdaten und Computerfestplatten Verdächtiger erforderlich, argumentieren die Befürworter der Vorratsdatenspeicherung und der Online- Durchsuchung. Deshalb müsse man diese Daten über einen gewissen Zeitraum speichern. Terrorismus und Kriminalität nehmen keine Rücksicht auf Landesgrenzen; deshalb sei eine europaweit einheitliche und abgestimmte Strafverfolgung von besonderer Bedeutung. Potentielle Gefahren rechtzeitig erkennen und verdächtige Personen aus dem Verkehr ziehen – so lautet das Ziel für jene Politiker und Behörden, die Verantwortung für unsere Sicherheit übernehmen.

Ermittlungsbehörden erhoffen sich vom Zugriff auf Computerfestplatten und die sog. Verkehrs- und Standortdaten also Erleichterungen bei der Verbrechensbekämpfung. Dabei handelt es sich um Daten, die entstehen, wenn man telefoniert, ein Fax verschickt, im Internet surft, sich mit anderen in einem Chatroom unterhält oder eine E- Mail verschickt. Sie enthalten Informationen über IP- Adressen, Datum, Uhrzeit und Dauer der Verbindung sowie dabei übertragene Datenmenge.

Die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder betonte hingegen in einer Pressemitteilung vom März 2007, dass die Vorratsdatenspeicherung in Widerspruch zur Verfassung und zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes stehe. Zudem beeinträchtige sie „die für eine freiheitliche Gesellschaft konstitutive unbefangene Kommunikation erheblich“.

Die Frage nach der Erlaubnis zur Vorratsdatenspeicherung und zur Onlinedurchsuchung berührt wichtige Aspekte unseres Staatsverständnisses. Eine der fundamentalen Aufgaben unseres demokratischen Gemeinwesens ist der grundgesetzlich verankerte Schutz der Menschenrechte. Sie bilden die Richtschnur für das gesamte staatliche Handeln und setzen ihm klare Grenzen.

Gleichzeitig setzt sich der Rechtsstaat aber auch die Aufgabe, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen, ihr Hab und Gut zu verteidigen und sie vor Angriffen auf ihr leibliches Wohl zu bewahren. Dieses Sicherheitsinteresse ist eine der zentralen Herausforderungen des modernen Staates. Dazu verfügt er über wirksame Instrumente der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr, die die Grenzen, die das Grundgesetz setzt, respektieren.

Beide Aufgaben – Schutz der bürgerlichen Freiheiten und Verantwortung für die innere und äußere Sicherheit - haben ihre normative Berechtigung. Zum Dilemma werden sie allerdings in einer Entscheidungssituation, in der die Verfolgung eines Ziels nur auf Kosten des anderen gelingen kann.

Die Gruppe für den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, die sog. Artikel 29- Datenschutzgruppe der Europäischen Union, hat eine treffende Formulierung für dieses Dilemma gefunden:

„Die Aufbewahrung von Verkehrsdaten ist ein Eingriff in das unverletzliche Grundrecht auf Achtung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses. Eingriffe in dieses Grundrecht müssen einem zwingenden Bedarf entspringen, sie sollten nur in Ausnahmefällen gestattet werden und angemessenen Schutzmaßnahmen unterworfen sein. Der Terrorismus stellt unsere Gesellschaft vor eine reale und drängende Herausforderung. Die Regierungen müssen auf diese Herausforderung in einer Form reagieren, die dem Bedürfnis der Bürger, in Frieden und Sicherheit zu leben, wirkungsvoll nachkommt, ohne die Menschenrechte des Einzelnen, darunter das Recht auf Privatsphäre und Datenschutz, auszuhöhlen, denn diese Rechte gehören zu den Eckpfeilern unserer demokratischen Gesellschaft.“

Ein Staat, der nicht in der Lage ist, seine Bürger vor terroristischen Angriffen und Organisierter Kriminalität zu schützen, hat schwerwiegende Defizite aufzuweisen. Wo der Schutz der Bürger jedoch nur durch die Außerkraftsetzung der Menschen- und Bürgerrechte gelingt, stehen wir vor ernsthaften Legitimationsproblemen.

Die Balance zwischen diesen beiden Zielvorgaben zu finden, ist schwierig. Nicht immer komme ich bei politischen Entscheidungen zu einer Position, die für beide Seiten eine win- win- Situation darstellt und meine volle Zustimmung hat. Gelegentlich muss ich zwischen Zielen abwägen, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen – und bisweilen lassen sich für juristisch komplexe und politisch sensible Probleme keine einfachen Lösungen finden, die alle Seiten zufriedenstellen.

Der rasante Übergang ins Informationszeitalter bietet Ermittlungsbehörden neue Möglichkeiten, Gesetzesverstöße aufzuspüren, zu verfolgen und zu ahnden. Allerdings muss man dabei auf Ausgewogenheit und Verhältnismäßigkeit der Mittel achten. Denn nicht alles, was technisch machbar ist, ist meines Erachtens auch politisch sinnvoll und rechtlich zulässig. Wo Daten, die den Kernbereich der privaten Lebensgestaltung betreffen, gespeichert werden bzw. dem Zugriff der Ermittler offenstehen sollen, stößt das Strafverfolgungsinteresse des Staates an seine Grenze. Diese Daten müssen durch ein absolutes Verwertungsverbot geschützt werden. Denn die Grundrechte und die grundlegenden Prinzipien des Rechtsstaates sind keine Variablen, die je nach Sicherheitslage und Bedrohungsszenario neu definiert werden können.

Diese unbedingte Schranke für Ermittlungsbehörden hat das Bundesverfassungsgericht definiert und gestärkt. Im Jahr 2005 hat das Bundesverfassungsgericht das Umsetzungsgesetz zum EU- Haftbefehl und die Telefonüberwachung nach niedersächsischem Landesrecht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Im vergangenen Jahr hat es der Befugnis zum Abschuss von Passagierflugzeugen seine Zustimmung verweigert. Auch die SPD- Bundestagsfraktion verteidigt diese Linie und hat die geplante Vorratsdatenspeicherung von Fingerabdrücken, die zur Erstellung biometrischer Pässe genommen wurden, abgelehnt.

Bei der gegenwärtig debattierten Online- Durchsuchung lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheitsbedürfnis und Grundrechtsschutz exemplarisch nachzeichnen. Der Bundesgerichtshof ist dieser Maxime des Bundesverfassungsgesetzes gefolgt und hat die Praxis der Online- Durchsuchung verboten, da keine ausreichende gesetzliche Grundlage vorhanden war. Gegenwärtig befassen sich die Rechtspolitiker im zuständigen Ausschuss damit, dieses Ermittlungsinstrument auf eine grundgesetzkonforme Basis zu stellen. Meine Fraktionskollegen setzen sich für die enge Umschreibung des Anwendungsbereiches ein: Online- Durchsuchungen sollen höchstens zur Abwehr einer konkreten Gefahr, nicht aber zur Prävention zulässig sein.

Denn das staatliche „Ausspähen“ von Festplatten ist ein virtuelles Eindringen in Wohnung und Privatsphäre. Schließlich darf man nicht vergessen, dass viele Computernutzer persönliche Informationen auf ihren Festplatten abspeichern, bspw. Kontodaten, Bilder, Krankenunterlagen, Tagebücher etc. Das Bundesverfassungsgericht nennt in seiner Rechtsprechung diesen Bereich „das letzte Refugium zur Wahrung der Menschenwürde".

Diesen Schutzbereich zu verteidigen und auszudehnen, haben wir uns auch bei der Umsetzung der europäischen Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung vorgenommen. Die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates ist am 3. Mai 2006 in Kraft getreten. Sie muss für Verkehrsdaten der Festnetz- und Mobilfunktelefonie bis zum 15. September 2007 in nationales Recht umgesetzt sein; für Internetverkehrsdaten ist ein Aufschub bis 15. März 2009 zulässig. Bundesregierung und Bundestag arbeiten gegenwärtig bei der Ausarbeitung dieses sog. Umsetzungsgesetzes eng zusammen.

Konkret ist geplant, die Umsetzung der Richtlinie mit datenschutzrechtlichen Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes und Klarstellungen in der Strafprozessordnung zu verbinden. Die Regierung hat einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen vorgelegt. Der Entwurf wird heute, am 6. Juli 2007, in erster Lesung im Bundestag eingebracht und anschließend an die beteiligten Ausschüsse zur weiteren Beratung überwiesen. Es handelt sich um den federführenden Rechtsausschuss sowie die mitberatenden Ausschüsse für Inneres und Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wir haben uns gemeinsam mit unserem Koalitionspartner dafür eingesetzt, dass bei der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht keine Regelungen zu Speicherungsdauer und erfassten Datenarten getroffen werden, die über die Mindestanforderungen der Richtlinie hinausgehen. Diese Selbstbindung hatten wir auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben.

Die wesentlichen Eckpunkte des EU- Kompromisses, für die wir einen vernünftigen Ausgleich zwischen Grundrechtsschutz und Strafverfolgung finden wollen, sind folgende:

• Es ist eine Mindestspeicherfrist von 6 Monaten vorgesehen, eine Verlängerung der Frist auf bis zu 24 Monate liegt im Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten. Der Bundestag hat bekräftigt, dass nicht über die Mindestspeicherdauer von sechs Monaten hinausgegangen werden soll. Der von der Richtlinie vorgegebene Spielraum von bis zu 24 Monaten wird also nicht ausgeschöpft werden. Auch heute schon können Unternehmen nach dem Telekommunikationsgesetz Daten bis zu sechs Monate lange aufbewahren, um sie zur Rechnungslegung verwenden zu können. Was sich allerdings ändert, ist folgendes: aus der Erlaubnis für Unternehmen zur Speicherung von Daten wird durch die europäische Richtlinie eine Verpflichtung. In der Praxis bedeutet dies, dass die Unternehmen, die schon heute in der Regel drei Monate speichern, diesen Zeitraum um lediglich drei Monate verlängern müssen.

• Speicherzweck und Datenabfrage sind auf Zwecke der Strafverfolgung, d.h. die Ermittlung, Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung sowie von mittels Telekommunikation begangener Straftaten beschränkt. Für diese Daten muss ein tatsächlicher Bedarf vorliegen, und die Speicherung darf keinen unverhältnismäßigen Aufwand verursachen. Für letztgenannte Fallgruppe ist dies jedoch nur dann zulässig, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise ausgeschlossen ist; zudem muss die Datenerhebung in angemessenem Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen. Das deutsche Recht sieht schon heute vor, dass Behörden bei Vorliegen der genannten gesetzlichen Voraussetzungen, wie bei der Verbreitung von kinderpornographischer oder fremdenfeindlicher Inhalte im Internet, Auskünfte von Telekommunikationsunternehmen einfordern können. Dazu benötigen sie einen richterlichen Beschluss und müssen bestimmte Verfahrensvorschriften einhalten. Meiner Ansicht nach muss sichergestellt sein, dass mit der Vorratsdatenspeicherung nur solche schwerwiegenden Taten verfolgt werden, für deren Aufklärung die Telekommunikationsüberwachung besonders unerlässlich ist. Sie darf nicht zu einem „normalen“ Instrument der Strafverfolgung werden.

• Standort- und Verbindungsdaten, wie Telefonnummern von Handys und Festnetzgeräten, werden nur für den Beginn des Mobilfunkverkehrs, nicht auch für das Ende gespeichert, um die Speicherkosten zu senken. Erfolglose Anrufversuche werden nicht aufgezeichnet. Es werden lediglich Internet-Einwahldaten, d.h. die IP- Adresse und der Zeitpunkt, sowie Verkehrsdaten zu Emails und Internettelefonie aufgezeichnet. Inhalte der vom Nutzer aufgerufenen Seiten und der Kommunikation werden ausdrücklich nicht protokolliert. Die Neuregelung sieht vor, diese Daten vielen Behörden zum Online-Abruf zur Verfügung zu stellen. Dazu gehören Polizei, Staatsanwaltschaft, Nachrichtendienste, Zoll und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, kurz BaFin. Allerdings hege ich an dieser Stelle auch deutliche datenschutzrechtliche Bedenken, wenn Nutzer öffentlich zugänglicher E-Mail-Dienste zur Angabe ihres Namens und ihrer Adresse verpflichtet werden.

Effektive Strafverfolgung und Grundrechtsschutz zugleich zu gewährleisten, ist eine Aufgabe, die große Wachsamkeit und Besonnenheit erfordert. Ich vertraue fest darauf, dass meine Kolleginnen und Kollegen, die im federführenden Rechtsausschuss diese Angelegenheit beraten, sich dieser Verantwortung bewusst sind und eine Regelung finden werden, die einen sinnvollen und praktikablen Ausgleich zwischen diesen beiden Zielen schafft.

Auch mit der Sicherheit der elektronischen Stimmabgabe haben wir uns im Bundestag schon eingehend beschäftigt. Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages hat sich in einer öffentlichen Sitzung am 18. Juni 2007 dieses Themas angenommen; eine endgültige Entscheidung liegt allerdings noch nicht vor. Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen bin ich von der Manipulationssicherheit elektronischer Wahlmaschinen nicht überzeugt.

Die unbedingte Gültigkeit des Wählerwillens ist ein zentrales Funktionsprinzip einer Demokratie. Das an sich verständliche Interesse der Verwaltungsbehörden an einer Vereinfachung und Beschleunigung der Auszählung ist meines Erachtens nachrangig gegenüber der Gefahr einer Verfälschung des Wählerwillens. Wir verfügen in der Bundesrepublik mit dem System der Wahlurnen über einen bewährten Wahlmechanismus, der nicht ohne triftigen Grund abgeschafft werden sollte. Die Kontrolle der Stimmzettel durch Wahlvorstände genießt für mich aus demokratietheoretischen und rechtlichen Gründen Vorrang gegenüber dem Vertrauen in die Hersteller der Wahlmaschinen und das fehlerfreie Arbeiten ihrer technischen Produkte.

In der Hoffnung, dass ich Ihre Bedenken konstruktiv reflektieren und Ihnen einen Einblick in meine Überlegungen geben konnte, verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

Lothar Binding