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Lothar Binding
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Frage von Camilla N. •

Frage an Lothar Binding von Camilla N. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Binding,

laut einer Umfrage von abgeordnetenwatch.de aus 2019 finden 82% aus 1006 Wahlberechtigten, dass der Einfluss von Lobbyisten auf die Politik zu hoch beziehungsweise viel zu hoch ist. Finden Sie auch, dass der Einfluss von Lobbyismus zu groß ist und stellt er Ihrer Meinung nach eine Gefahr für die Demokratie dar?

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Sehr geehrte Frau Neuner,

vielen Dank für Ihre Frage bei abgeordnetenwatch.de zum Thema Lobbyismus.

Sie stellen eine der schwierigsten Fragen, weil Gutes und Böses, Hilfe und Schaden, Demokratie und Wirtschaftsdiktatur so eng beieinander liegen und weil Lobbyismus als ehrliche Aufklärung nur schwer von Lobbyismus als aggressive Manipulation zu unterscheiden ist. Die Grenzen sind fließend…

Ich habe in den vergangenen Jahren viele Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern zu diesem Thema erhalten. Auch über abgeordnetenwatch.de. So auch 2015.

Im Folgenden zitiere ich deshalb Teile meiner Antwort aus dem Jahr 2015, weil sie noch immer aktuell ist.

Lobbyismus hat für die meisten Menschen einen negativen Klang und gilt automatisch als schlecht und als Gefahr für die Demokratie in diesem Land. Ich möchte zeigen, warum im Grundsatz nichts Verwerfliches daran ist, solange sich Lobbyisten und Politiker in einem vernünftigen Rahmen bewegen und vernünftig mit Lobbyismus umgehen. Im Gegenteil: ich brauche Lobbyisten. Aber was heißt „vernünftig“ mit Lobbyismus umgehen?
In vielen Fällen sind wir als Parlamentarier auf das Fachwissen und die Branchenmeinung der Interessensvertreter angewiesen. Außerdem kommt ein Interessenvertreter ja nicht zur Rettung der Welt zum Abgeordneten, auch wenn es manchmal so klingt - er kommt bekanntermaßen in speziellem Interesse seiner Branche, seines Unternehmens, seines Verbandes. Ob es um komplexe Vorgänge auf dem Finanzmarkt, um Umwelt- oder Energiefragen, um Sozialversicherungsthemen oder um komplizierte Rechtsfragen - in allen Politikfeldern ist es für mich enorm wichtig, diese Informationen, diese speziellen Sichtweisen zu kennen. Durch die genauen Darstellungen der unterschiedlichen Interessenlagen werden viele Spezialaspekte bekannt, die bei einer allgemeinen Betrachtung und in der Hektik des Terminkalenders verloren gehen könnten. Diese Dialoge mit Interessenvertretern sind so hilfreich, wie sie gefährlich sind. Aber natürlich darf ich einem Lobbyisten nicht einfach so glauben. Stets muss ich zu jedem Lobbyvertreter den Vertreter der Gegenseite einladen, anhören und mit ihm diskutieren. Und zu diesen beiden muss ich den dritten, vierten, fünften Lobbyisten hören. Und die Meinung der Exekutive… und erst allmählich entsteht aus all diesen sich praktisch immer widersprechenden Meinungen (Interessen) mein eigenes Meinungsbild mit dem ich anschließend Politik für die Bürgerinnen und Bürger - die außer mir keine eigene organisierte Lobbyvertretung haben - machen kann.
Hilfreich sind sie, weil gerade die Konkurrenz der Interessenvertreter unendlich viele Argumente und Überlegungen transparent macht, die sich ein Politiker auf anderem Wege nur sehr mühsam erarbeiten könnte. Auch noch im Gesetzgebungsverfahren selbst melden sich Lobbyisten zu Wort, wenn sie auf Formulierungen stoßen, die ihr Anliegen nicht hinreichend zu berücksichtigen scheinen. Glücklicherweise gilt dies aber für alle anderen Lobbyisten auch, sodass im günstigsten Fall ein ausgewogenes Kräfteverhältnis entsteht und die Einzelinteressen sich wechselseitig aufheben. Im besten Fall werden so Probleme und deren Lösungen von allen Seiten beleuchtet, ein Lernprozess entsteht, der vor Einseitigkeiten schützt. Dies allerdings muss jeder Politiker, jede Politikerin für sich organisieren. Wie gesagt: zu jedem Lobbyisten gilt es, den Gegenlobbyisten zu hören. Nach jedem Zigarettenverkäufer ist der Lungenchirurg, der Herzspezialist und die Verbraucherzentrale zu hören, nach jedem Investmentbanker der Finanzmarkt-Spezialist der Verbraucherzentrale. Und wenn ich alle Lobbyvertreter gehört habe, kann ich für alle Bürgerinnen und Bürger politisch aktiv werden, denn für sie wurden wir ja gewählt. Allerdings gibt es auch ungefähr so viele verschiedene Meinungen in der Bevölkerung wie Bürgerinnen und Bürger in unserem Land…

Gefährlich sind die Dialoge, weil die Lobbyisten immer subtilere Verfahren entwickeln, die Politiker zu beeinflussen. Das ist zwar jedem Politiker bekannt, aber wer wollte sicherstellen, dass er nicht doch in einem feinen Abwägungsprozess an entscheidender Stelle zugunsten einer Seite tendieren könnte - zumal es nicht immer leicht ist, aufgrund der veröffentlichten Meinung die gesellschaftliche Mehrheitsmeinung zu erkennen. Angenommen, bestimmte Medien wären auf bestimmte Werbeaufträge einer Branche, eines Unternehmens oder eines Verbandes angewiesen - unabhängig von der tatsächlichen Berichterstattung wären Zweifel an der objektiven Berichterstattung kaum auszuräumen. Wenn ein Großunternehmen in größerem Umfang Anzeigen in der Regionalzeitung schaltet… welche Freiheitsgarde hat die Zeitung dann noch, objektiv über das Unternehmen zu berichten? Wenn in Parteizeitungen oder parteinahem Zeitungen ganzseitige Werbung von Spielhallen zu finden sind, wie will diese Zeitung objektiv über Spielsucht und dessen gravierenden Folgen für die Süchtigen berichten und über die politischen Aufgaben in diesem Kontext?

Lobbyisten arbeiten in erster Linie für sich und damit gegen andere. Aber wie genau arbeiten Lobbyisten? Im Regelfall erhalte ich einen Brief. Eine Information. Mal als Massenpost, das ist schlecht, weil es mehr Massenpost gibt, als in einem kleinen Abgeordnetenbüro bearbeitet werden kann. Mal als individuell gestalteten Brief. Eine Kontaktperson wird vorgestellt, eine Beratung oder ein Gespräch angeboten, eine Einladung angekündigt, mit der Bitte um Terminvormerkung oder es wird um einen Besuchstermin gebeten. Völlig unverbindlich natürlich. Kontakte mit Lobbyisten von Verbänden und Unternehmen, aus der Wissenschaft, von Behörden, Vereinen oder mit ehrenamtlich tätigen und gemeinwohlorientierten Bürgerinitiativen nehmen breiten Raum im Arbeitsalltag eines Abgeordneten ein.

Eine besondere Form des Lobbyismus wird von ehemaligen Abgeordneten organisiert. Sie kennen die Abläufe, die Zeitpläne und Strukturen im Parlament. Oft kennen sie auch noch die Sekretariate und wie man sich anmeldet. Leider vermitteln einige ehemalige Kolleginnen und Kollegen für Lobbyisten Gespräche mit Abgeordneten. Ich frage dann regelmäßig ob dafür auch noch Geld bezahlt wurde, denn mit mir kann jeder Bürger und jede Bürgerin reden - ganz ohne extra Bezahlung. Mein Lohn sind die Diäten und deren Höhe ist öffentlich.

Eine andere Kategorie des Lobbyismus findet in den Ministerien statt. Neben den so genannten internen Anhörungen zu bestimmten (von der Regierung initiierten) Gesetzesvorhaben, oft bevor das Parlament überhaupt damit befasst, gibt es vielfältige Kontakte zwischen Interessenvertretern und Beamten in Ministerien. Meine Minimalanforderung an solche Vorgänge ist die Transparenz gegenüber dem Parlament und auch gegenüber der Öffentlichkeit. Lobbyismus in den Ministerien verdiente eine eigene Betrachtung.

Kritisch sehe ich auch, wenn Beamte aus Ministerien für ihre Teilnahme an Podiumsdiskussionen, für Vorträge etc. von Lobbyverbänden bzw. Interessengruppen, Honorare erhalten. Oft in nennenswertem Umfang.

Schwierig ist auch, wenn Kolleginnen und Kollegen, die im Bundestag sitzen, gleichzeitig auch in ihren Interessenverbänden aktiv sind. Das führt zu Interessenkonflikten. Wessen Interessen vertreten sie? Die der Bürgerinnen und Bürger oder die des Verbandes.

Ich hoffe sehr, dass ich Ihnen mit diesen Ausführungen meine Haltung zum Thema Lobbyismus deutlich machen konnte.

Mit freundlichen Grüßen

Lothar Binding