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Frage von Juergen V. •

Frage an Lothar Binding von Juergen V. bezüglich Finanzen

Sehr geehrter Herr Binding,

nachdem am Freitag (30.06.17) die gesetzliche Grundlage „Ehe für Alle“ von den Fraktionen in offener Abstimmung freigegeben wurde, habe ich Fragen zu weiteren noch offenen Entscheidungen.
Nach den Panama-Papers, Dividendenstripping, Lux-Leaks, Malta Files Skandale von Geldtransfers zur Steuervermeidung oder Geldwäsche, habe ich Fragen zum Stand der Finanztransaktionssteuer in den Bundestagsgremien.
Meines Wissens wollten alle im Bundestag vertretenden Parteien diese nach der Bankenkrise einführen.
Diese wurde aber bis jetzt noch nicht gesetzlich geregelt. Bankenrettungspakete, ESM und ESF wurden binnen einer Woche in Bundestag und Bundesrat verabschiedet.
Steht die Finanztransaktionssteuer nicht mehr auf der Tagesordnung der Fraktionen?
Stehen nur "notleidende Banken" im Focus der Finanzpolitik?
Wie es um die Steuerzahlungsmoral von Großkonzernen und Milliardären steht, ist bei den oben genannten Beispielen belegt.
Daher besteht hier dringender Handlungsbedarf. Wird auch diese Abstimmung zur Glaubwürdigkeit der Politik noch in dieser Legislaturperiode freigegeben?

Für die Beantwortung bedanke ich mich,

Mit freundlichen Grüßen
J.Vanselow

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Antwort von
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Sehr geehrter Herr Vanselow,

vielen Dank für Ihre Fragen. Zunächst zitiere ich einen echten aber anonymisierten Dialog, um Ihre Formulierung: „von den Fraktionen in offener Abstimmung freigegeben“ zu reflektieren. Übrigens hat Bundestagspräsident Lammert am Freitag dazu auch eine sehr treffende Stellungnahme abgegeben.

Vom Zwang, den es nicht gibt: Fraktionszwang

Öffentlicher, fachlicher und politischer Druck und wie ich damit umgehe…

Oft erhalte ich eine wichtige Frage zur Demokratie und ihren praktischen Konsequenzen für das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten. Oft wird vorsichtig und klug das „Spannungsverhältnis von Gewissensfreiheit und Fraktionsdisziplin“ hinterfragt. Und oft unterstellen einige Bürgerinnen und Bürger leider einfach: Fraktionszwang.

Dabei gibt es keinen Fraktionszwang. Wer wollte mich zwingen? Ich bin ein frei gewählter Abgeordneter und gemäß unserer Verfassung darf und kann mich niemand zwingen.

Allerdings es gibt eine Drucksituation wie in fast jeder Gruppe. Ein Beispiel: Was wäre mit der Kraft der Gewerkschaften, wenn jeder die Beschlüsse der eigenen Gruppe missachten würde und sich nur um seine ganz privaten Interessen kümmerte und nur seine eigene, einzelne Meinung gelten lassen würde? Jeder würde für sich verhandeln, vereinzelt und damit schwach - im Ergebnis würden alle Arbeitnehmer schlechter dastehen. Und ob tatsächlich am Ende jeder Erfolge in die von ihm gewünschte Richtung erzielt hätte, ist sehr fraglich.

Solch ähnliche Effekte wie eben für Gewerkschaften angedeutet, gibt es auch im Bundestag. Dort gibt es gegenwärtig vier Fraktionen. Die Mitglieder dieser Fraktionen sind von Parteien in ihren Wahlkreisen aufgestellt und entweder direkt oder über die Landesliste gewählt worden. Alle Parteien haben Programme, Grundsatzprogramme, Wahlprogramme, Regierungsprogramme oder wenigstens Grundsätze oder einen Partei-Namen, um ihre Denk- und Arbeitsrichtung anzudeuten. Dort erkennen wir die grundsätzlichen Ziele, für die jeder kandidiert, sozusagen das Versprechen darüber, welche Gesetze nach der Wahl, falls man erstens gewählt ist und zweitens regieren darf, beschlossen werden bzw. welche Politik dann zu erwarten ist. Für mich gilt in diesem Zusammenhang aktuell das Regierungsprogramm 2013-2017 der Sozialdemokratischen Partei Deutschland (SPD).

Da es sehr selten vorkommt, dass eine Fraktion allein die Kanzlermehrheit erreicht, müssen nach jeder Wahl Koalitionen gebildet werden und damit findet sich fast kein vor der Wahl angestrebtes Vorhaben in Reinkultur nach der Wahl wieder. Manchmal wird sogar das Gegenteil verabredet, weil man in den Koalitionsverhandlungen an einer Stelle zu 100 % nachgibt, um sich an einer anderen Stelle zu 100 % durchzusetzen. So entsteht schnell der Eindruck, man habe sich „billig verkauft“ und die Partei und ihre Mitglieder stehen unter dem Druck, die Zusammenhänge zu erklären, wie aus dieser Email-Korrespondenz mit einem Ortsvereinsvorsitzenden hervorgeht:

„Lieber Lothar,

Mir sind die unverzichtbaren SPD-Inhalte in einer großen Koalition zu wenig konkret, dadurch und durch das ständige "wir wollen" zu wenig verbindlich. Hier muss im Verhandlungsergebnis stehen: ohne gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 €; ohne Gleichbehandlung der gleichgeschlechtlichen Ehe; ohne Anhebung des Spitzensteuersatzes; ohne Abschaffung des Betreuungsgeldes usw. gibt es mit uns keine Koalition!

Immerhin haben über 11 Mio. Bundesbürger SPD gewählt, ihnen sind wir schuldig, unsere Wahlversprechungen umzusetzen, wenn wir in Regierungsverantwortung stehen. Sollte das nicht möglich sein, müsen wir Neuwahlen riskieren und den Wählern deutlich machen, warum unsere politischen Ziele nicht umsetzbar waren

Mit skeptischen Grüssen
Dein Musterjunge“

„Lieber Musterjunge,

das sehe ich auch so: dass die "... unverzichtbaren SPD-Inhalte in einer großen Koalition zu wenig konkret" sind. Aber ist das nicht trotzdem klug? Es wäre klug Deinem Weg zu folgen, wenn wir keine Koalition bilden wollen. Dass wir keine Große Koalition wollen, ist ja klar. Duldung wäre besser, schwarz-grün wäre besser, schwarz-links wäre besser - allerdings liegen diese Alternativen nicht in unseren Händen. Wir können widerwillig in die große Koalition gehen oder werden verantwortlich (ich sage im Hinblick auf die deutsche Medienlandschaft nur Liz Mohn und Friede Springer) für Neuwahlen gemacht. Und Neuwahlen möchte ich nicht, weil ich FDP und AfD jetzt in der APO richtig platziert sehe.

Es stimmt auch: 25 Prozent der Wählerinnen und Wähler haben uns gewählt, manche formulieren leider falsch: "jedes vierte Haus hat uns gewählt"; Teile der Wahlberechtigten werden dabei aber vergessen. Aber mehr als 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler haben CDU/CSU gewählt - die nach Deiner Logik eine ähnliche Liste unverzichtbarer CDU-Inhalte aufzustellen hätte. Die Verhandlungsunfähigkeit wäre festes Programm.

Und sind wir den 11 Mio. Bundesbürgern, die SPD gewählt haben, nicht auch schuldig zu versuchen, so viel wie möglich von unserem Programm in der kommenden Legislatur umzusetzen... was auch für die CDU gilt und dann plötzlich deutlich werden kann, dass hier ein Verhältnis 40/25 als Argument aufscheint? Und wie würde "unverzichtbar" definiert? Wäre uns der Mindestlohn die fehlende Steueranhebung wert? Die doppelte Staatsbürgerschaft die Energiewende?

Du schreibst: "... ihnen sind wir schuldig, unsere Wahlversprechungen umzusetzen". Nein. Das würde gelten, wenn wir die Mehrheit im Parlament hätten, denn dann könnten und würden wir unser Regierungsprogramm abarbeiten. Aber das hat "das Volk" eben nicht gewollt. Nein, es wird weder nach uns längsgestreifte, noch nach der CDU quergestreifte Vorhänge geben. Es wird sicher so etwas wie karierte Vorhänge geben. Aber immerhin wird es Vorhänge geben... und das ist das Ergebnis von Politik. Es gibt ein wenig Wärmedämmung und Sichtschutz und die Leute draußen werden sagen: "was für Idioten... wie kann man denn karierte Vorhänge aufhängen...“ und sie werden vergessen, dass es Vorhänge gibt.

Du schreibst noch "... müssen wir ... den Wählern deutlich machen, warum unsere politischen Ziele nicht umsetzbar waren" - und Du glaubst wirklich, wir kämen damit via Bildzeitung und Spiegel in eine mehrheitsfähige Position bei den nächsten Wahlen? Zu einem Ergebnis, bei dem wir unseren 11 Millionen Wählern und Wählerinnen vielleicht erklären müssen, dass wir die kommenden vier Jahre nichts, na ja: ganz sicher nicht viel bewirken können? Jedenfalls nichts, was uns zugeschrieben würde.

Ich denke, wir sind es unseren Wählerinnen und Wählern gegenüber noch mehr schuldig, unsere Wahlversprechungen so umfangreich wie möglich und so gut wie möglich umzusetzen auf der Grundlage der Ergebnisse, die eben diese (auch unsere) Wählerinnen und Wähler produziert haben.

Ich bin gespannt, ob die Verhandlungsergebnisse gut sind und unsere Mitglieder damit leben können...

Liebe Grüße, Dein Lothar“

Soweit der Auszug aus meiner Mailbox. Es könnte Hunderte geben… das erzeugt Druck in vielfältiger Weise. Und da nach der Wahl bekanntlich vor der Wahl ist, geht der Druck, die persönlichen Interessen mit denen der Partei bzw. der Fraktion sowie mit denen der Gesellschaft zu vereinbaren weiter:

Die Politik der Oppositionsfraktionen im Parlament orientiert sich wesentlich an den Programmen, die die jeweiligen Parteien vor der Wahl erarbeitet haben. Da jede Oppositionspartei bzw. die dazugehörige Fraktion im Bundestag glaubt, das bessere Programm zu haben und deshalb besser regieren könnte, stellen sie mit wenigen Ausnahmen die Regierungspolitik in schlechtem Lichte dar - und zwar auch jene Entscheidungen, die für das Volk wirklich gut sind. Denn wenn die Opposition die Regierung für gute Politik loben würde, hätten die Oppositionsfraktionen kaum eine Chance bei künftigen Wahlen die Regierung stellen zu dürfen.

Hier liegt eine der Ursachen, warum sich jedes Mitglieder einer „Regierungsfraktion“ gut überlegt, mit der Opposition gemeinsam abzustimmen - hier spreche ich aber nur von den strittigen, wichtigen und medial auffälligen Abstimmungen. Denn tatsächlich wird die Mehrzahl aller Entscheidungen im Bundestag ohne Gegenstimme oder sogar einstimmig getroffen. Wenn ich mich richtig erinnere, sind dies ungefähr 80 % aller Entscheidungen. Sehr viele Entscheidungen finden eine breite Mehrheit und nur ganz wenige Entscheidungen sind sehr strittig. Oft empfinden wir die wenigen Strittigen als besonders wichtig, weil in der Presse darüber besonders viel berichtet wird. Wie überhaupt viel mehr über die strittigen Diskussionen berichtet wird als über die Gemeinsamkeiten, obwohl für unsere Gesellschaft Entscheidungen, die mit breiter Mehrheit getroffen werden, ebenso wichtig sind.

Die Frage nach dem „Spannungsverhältnis von Gewissensfreiheit und Fraktionsdisziplin“ zielt auf die wenigen sehr strittigen und wichtigen Fragestellungen. Ich denke mit Blick auf aktuelle Fragestellungen dabei z.B. an den Einsatz der Atomenergie, den sich noch immer viele in unserem Parlament vorstellen können, an Fragen zur Zulassung der PID oder der Sterbehilfe. Daran, ob die Bahn privatisiert werden soll, ob die Bildungschancen für alle Kinder gleich sein sollen oder ob die Steuern nicht aus Gründen der Gerechtigkeit wieder angehoben werden sollten. Es gibt auch Fragestellungen ganz anderer Art, z.B. als der Bundestag nach Berlin umzog. Sollte er dann Reichstag heißen, weil er im Reichstag tagt. Sollte der Reichstag künftig Bundestag heißen? Wolfgang Thierse hatte dann die Idee: Bundestag im Reichstag. Schon bei diesen wenigen Beispielen fällt auf, dass die Fragestellungen sehr unterschiedlich Qualität haben. Ich unterscheide Geschmacksfragen von Sachfragen mit und ohne ideologischem Hintergrund und Gewissensfragen.

Nun möchte ich zunächst Fraktionsdisziplin in einer Weise betrachten, wie der Begriff leider häufig Verwendung findet. Ich bevorzuge den Begriff: Gruppendruck. Wenn z.B. ein Dutzend Kolleginnen und Kollegen die Abstimmungsmehrheit einer ganzen Fraktion oder Koalition dominieren. Die Mehrheit in der Fraktion ist für ein Gesetz, Thomas Oppermann fragt, wer dagegen ist, und 12 Hände gehen hoch. Das muss zu denken geben, denn es könnte ja sein, dass dieses Gesetz in 12 Wahlkreisen oder Regionen Deutschland zu größeren Problemen führt, die von der Mehrheit bisher nicht gesehen wurden. Dann sollten sich die 12 mit den Fachleuten für das Gesetz treffen und es so verändern, dass die Probleme gelöst sind - wir hoffen dann natürlich, dass dann nicht andere 12 mit der neuen Formulierung Probleme haben. Jedenfalls führt dieser Prozess dazu, dass unsere Gesetze fast immer von 100% aller Fraktionsmitglieder getragen werden. Gleichwohl kann es sein, dass jemand auch am Ende aller Besprechungen nicht zustimmen kann, weil sein spezielles Anliegen allen anderen zuwider läuft - aber in seinem oder ihrem Wahlkreis unverzichtbar ist.

Natürlich wird derjenige oder diejenige dann tausendfach gefragt, ob man sich das wirklich gut überlegt habe, warum man keinen Antrag gestellt habe, warum man das nicht eher gesagt habe, warum man zuerst mit der Presse und dann mit der Fraktion geredet habe etc. etc. Das erzeugt Druck - wie es ihn an jedem Arbeitsplatz gibt, wenn ein Vertriebsbeauftragter das Produkt der eigenen Firma schlecht macht, weil er es schlecht findet, aber nicht bereit ist zu kündigen. Allerdings gilt auch dort: das Lob der Konkurrenz ist diesem Mitarbeiter sicher. Dennoch wird er nur in den seltensten Fällen ein Angebot der Konkurrenz erhalten, denn auch dort sind solche Verhaltensweisen nicht wirklich erwünscht.

Natürlich muss der Fraktionsvorsitzende alles tun, um die Fraktion von einer einheitlichen Meinung zu überzeugen. Das ist seine Aufgabe. Andernfalls würde eine Regierung ihre Regierungsfähigkeit und eine Fraktion ihren Einfluss in kürzester Zeit verlieren. Aber zwingen kann der Fraktionsvorsitzende kein einziges Mitglied der Fraktion. Das versucht er auch nicht wirklich. Deshalb ärgern mich auch Äußerungen, die den Anschein erwecken, der Fraktionsvorstand hätte solche Druckmittel. Dennoch kann es schnell zu einem Dilemma kommen. Demokratie hat etwas mit Mehrheitsentscheidung zu tun. Mit seiner eigenen Meinung in einer Abstimmung zu unterliegen bedeutet doch, sich später der Mehrheit anzuschließen und deren Entscheidung zu respektieren. Sonst bräuchte ich ja an der Abstimmung nicht teilzunehmen, weil sowieso klar wäre, dass ich unabhängig von der Mehrheitsentscheidung machte, was ich will. Das gilt auch in einer Fraktion.

Nun kommt das in der Fraktion beschlossene Gesetz ins Plenum des Deutschen Bundestages. Dort stimme ich im Regelfall so ab, wie die Mehrheit in der Fraktion beschlossen hat. Andernfalls würde ich mit der Opposition stimmen, also eine Gruppe stärken, deren Vorschläge meistens noch weiter entfernt sind von meinen eigenen Vorstellungen als die der Mehrheitsmeinung in der eigenen Fraktion. Abgesehen davon ist auch ein Restzweifel über die eigenen Erkenntnisse und Meinungen erlaubt, wenn diejenigen, mit denen ich die grobe Richtung, wie Gesellschaft zu entwickeln ist, teile, mit 188 zu 5 Stimmen anders entscheiden als ich. Es könnte ja auch sein, dass die Mehrheit meiner Fraktion das Richtige denkt und ich das Falsche.

Verdächtig finde ich es, wenn jemand ganz fest gegen die Mehrheit steht, ohne einen eigenen Antrag, d.h. einen Gegenvorschlag, eingebracht zu haben. Ohne eigenen Antrag ist die bloße Ablehnung doch recht einfallslos. Oder doch nicht? Es gibt nämlich allzu oft ganz andere Motive, sich gegen die Mehrheit der Fraktion zu stellen. Gewissen? Kampf um Gerechtigkeit? Von wegen. Es gibt für die Medien nichts Spannenderes, als über „Abweichler“ zu berichten. Auch wenn kein eigenes Konzept vorliegt, die Tatsache, dass man Streit im eigenen Haus erzeugt, ist schon eine Nachricht wert. Und leider wird dies dann in der Öffentlichkeit oft mit Mut, Eigenständigkeit und dem wahren Kampf um Gerechtigkeit übersetzt.

Auch im Wahlkreis ist es super einfach, überall gelobt zu werden für sein Engagement gegen die eigene Fraktion, weil man ja sein Konzept nicht unter Beweis stellen muss. Ein nicht vorgelegtes Konzept tut auch niemandem weh. Die Fraktionsmeinung zu Hause zu vertreten ist dagegen kein Zuckerschlecken, weil damit möglicherweise alte Gewohnheiten, Vorteile, Sonderzuwendungen etc. aufgehoben werden müssen. Man muss erklären, warum diese Einschnitte erforderlich sind, warum man selbst nicht ganz einer Meinung mit der Mehrheit ist, aber gleichwohl die Mehrheitsmeinung in der Plenumsabstimmung stützt. Alles lästig, ärgerlich, kompliziert. Es lohnt sich also immer, ein „Abweichler“ zu sein. Man kommt in die Bundesmedien, wird überwiegend gelobt und braucht nichts zu beweisen, weil die eigene Position ja nicht mehrheitsfähig ist.

Wer doch einen eigenen Antrag stellt und dieser in der Fraktion abgelehnt wird, könnte versuchen, ihn mit der Opposition im Plenum durchzusetzen. Dann müsste die Opposition einen aus der Regierungsfraktion kommenden Antrag unterstützen. Das wäre sicher in Ordnung. Aber selbst wenn tatsächlich ein Vorschlag vorliegt, und falls tatsächlich die Opposition diesem Vorschlag zur Mehrheit verhilft, dann wäre im Fall des Scheiterns dieser Idee immer noch die Opposition Schuld. Eine wunderbare Position.

Der Hauptvorteil dieses Verfahrens liegt darin, dass die Bekanntheit im Wahlkreis steigt, sich damit die eigenen Wahlchancen verbessern, aber die Chancen der eigenen Gruppe, der man ursprünglich das Mandat verdankt, weil man dort zur Wahl aufgestellt wird und auch im Wahlkampf großartige Unterstützung erhält, vermindert werden. Man stößt sich noch mal auf dem Rücken aller anderen ab in der Hoffnung, auf deren Kosten seine eigene Position zu verbessern. So ähnlich gilt dies auch gelegentlich für Mitglieder einer Partei. Sie bringen selten, oft niemals eigene Anträge ein - die wären quasi messbar, würden kritisiert, riskierten Abstimmungsniederlagen - nein, diese Mitglieder verlieren sich ausschließlich in der Kritik an der eigenen Gruppe. Natürlich ist das auch recht einfach, weil man die eigenen Schwächen ja sehr gut kennt. Frank Scheffler in der FPD („Griechische Inseln verkaufen“, „raus aus dem Euro“, …) wäre ein Beispiel.

Das gilt selbstverständlich nicht immer. Es gibt auch Überzeugungen, die mit der Mehrheitsmeinung einfach nicht einhergehen. In diesem Fall gibt es eine recht gute Möglichkeit, dies im Parlament darzustellen. Man gibt eine so genannte Erklärung nach §39 der Geschäftsordnung ab, die z.B. besagt, was man sich vorstellt, und dass man keine Mehrheit in der Fraktion fand und deshalb gegen seine Überzeugung mit der Mehrheit der Fraktion stimmt, weil die Demokratie ja nicht teilbar ist und die Mehrheitsentscheidung in der Fraktion ebenso von Bedeutung ist wie im Plenum. Das kommt dann in das Protokoll der Bundestagssitzung und ist als Ausgangsbasis für die künftige Politikentwicklung verfügbar. Diese Erklärung nach §39 der Geschäftsordnung ist also eine Art Ventil um Druck abzubauen, durch eine öffentliche Erklärung oder Erläuterung des Dilemmas, in dem man sich befindet, Öffentlichkeit miteinzubeziehen und um Verständnis zu werben.

Diese Betrachtung gilt nicht für den Fall von Gewissensentscheidungen. Sie bilden eine eigene Kategorie. In diesen Fällen wird die Abstimmung „frei gegeben“. Das bedeutet eigentlich nur, dass die Fraktion bzw. der Fraktionsvorsitz nicht versucht, eine einheitliche Meinung herzustellen. Im Regelfall ist klar, wann es sich um eine Gewissensentscheidung handelt, dann verfahren die anderen Fraktionen entsprechend. Hier seien als Beispiele Pränatale Implantationsdiagnostik oder Fragen zur Sterbehilfe genannt. Aber auch militärische Einsätze gehören unter bestimmten Bedingungen dazu.

Natürlich kommt es auch vor, dass ich anderer Meinung bin als die Fraktionsmehrheit. So habe ich z. B. gegen die Gesundheitsreform der rot/grünen Koalition gestimmt, aber ohne viel Aufhebens davon zu machen oder ich war gegen bestimmte Einsätze in Afghanistan -um nur zwei Beispiele zu nennen. Prinzipiell gilt jedoch: In der Politik muss man Druck aushalten können. Bestenfalls - so wie am Beispiel der Gewerkschaften - bringt er die einzelnen Mitglieder einer Organisation näher und der geschlossene Auftritt verbessert ihre Verhandlungsposition. Das bedeutet allerdings auch Bereitschaft zum Kompromiss. Wer über diese - vor allem intellektuelle - Flexibilität verfügt, kann dem Druck innerhalb der Partei, dem Druck der Medien und der Öffentlichkeit Stand halten.
Soweit der erwähnte Dialog.

Finanztransaktionssteuer

Nun zu Ihre Frage zur Finanztransaktionssteuer. Sie steht im Koalitionsvertrag für diese Legislaturperiode und wird auch seit Beginn der 18. Legislaturperiode von unserer Regierung (maßgeblich BMF Schäuble) verhandelt. Weil nicht alle EU Mitgliedstaaten die FTT einführen möchten, wird sie in der sogenannten „Verstärkten Zusammenarbeit“ beraten und vorbereitet. Leider gibt es auch unter den 10 Staaten in der verstärkten Zusammenarbeit unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich verschiedener Derivate bzw. ihrer Besteuerung und auch hinsichtlich der Assetklassen, die für Altersvorsorgeprodukte in Frage kommen. Schon oft schien eine Einigung zum Greifen nahe - aber stets wurden kurz vor der Einigung auf ein Modell weitere Ansprüche einzelner Länder geltend gemacht. In der SPD Bundestagsfraktion überlegen wir auch die Einführung zunächst in Deutschland, falls die Verhandlungen in Europa endgültig ohne Erfolg bleiben.

Bankenrettungspakete, ESM und ESF binnen einer Woche…

Sie schreiben „Bankenrettungspakete, ESM und ESF wurden binnen einer Woche in Bundestag und Bundesrat verabschiedet.“

Sie haben Recht, Erste Bankenrettungsbeschlüsse wurden schnell gefasst, auch wenn es bei der Bankenrettung viel weniger um Banken ging als um die Sparerinnen, Sparer und Kreditnehmer. Eile war geboten um einen bank-run zu vermeiden. Auch der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wurde zügig beraten und beschlossen. Dies hat wesentlich dazu beigetragen, dass Deutschland heute eine stabile Struktur aufweist. Das gleiche gilt für die Europäische Finanz-Stabilitäts-Fazilität. (EFSF)

Der von Ihren auch erwähnte Europäische Sozialfonds (ESF) wurde zeitgleich mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 gegründet. Damit werden die Beschäftigungschancen, vieler Menschen durch Ausbildung und Qualifizierung verbessert - außerdem trägt der ESF zum Abbau von Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt bei. Der ESF eignet sich nicht als Beispiel für Ihre Kritik.

Steuerzahlungsmoral von Großkonzernen und Milliardären

Sie schreiben weiter: „Wie es um die Steuerzahlungsmoral von Großkonzernen und Milliardären steht, ist bei den oben genannten Beispielen belegt.“

Hinsichtlich dieser Bemerkung möchte ich Sie auf unser Anti BEPS Projekt hinweisen. Sie finden dazu auch viel unter abgeordnetenwatch.de. Dabei bedeutet BEPS: „Base erosion and profit shifting“

Ihre Mail kam am 1. Juli hier an, also nach dem letzten Tag der letzten Sitzungswoche in dieser Legislaturperiode - deshalb wird es keine weitere Gesetzgebung bis zur Wahl im September geben.

Hoffentlich helfen Ihnen meine Erläuterungen weiter.

Mit freundlichen Grüßen, Ihr Lothar Binding