Frage an Lothar Binding von Karl K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Bindig,
Seit dieser Woche dürfen Bundestagsabgeordnete endlich die TTIP-Originaldokumente einsehen.
Ist es richtig, daß die Abgeordneten
1. extra einen Termin in einem speziell eingerichteten Leseraum im Wirtschaftsministerium vereinbaren müssen,
2. keine Handys oder andere elektronische Geräte mitnehmen dürfen,
3. keine eigenen Stifte oder Blöcke benutzen dürfen,
4. im Leseraum durchgehend unter Beobachtung stehen und nach dem Verlassen ihre Notizen vorzeigen müssen (wem eigentlich?)
5. die Dokumente nur in englischer Sprache erhalten,
6. mit niemandem, nicht einmal mit den eigenen MitarbeiterInnen, über das Gelesene sprechen dürfen. Dringen Details aus dem Leseraum nach außen, wird dieser wieder geschlossen.
Sollten die Punkte 1 bis 6 zutreffen, wer hat sie angeordnet?
Sollte Punkt 4 zutreffen, wem müssen die Notizen vorgezeigt werden?
Wer sollte die Abgeordneten daran hindern auf diese Vorschriften zu pfeifen. Werden sie dann von einem Sicherheitsdienst rausgeworfen?
Ich kann es gar nicht glauben, wie sich Abgeordnete so demütigen lassen.
Werden Sie dieses Angebot zu den obigen Bedingungen wahrnehmen?
Freundliche Grüße
Karl Kern
Sehr geehrter Herr Kern,
vielen Dank für Ihre Frage.
Da es Ihnen sicher auch um inhaltliche Fragen geht, will ich zunächst meine Grundlage im Kontext des Freihandels mit den USA zitieren. Und so, wie wir eine Zeit überwunden haben, in der eine Freihandelszone unter Einschluss von Baden und Württemberg undenkbar war, so kann ich mir auch für die Zukunft mehr vorstellen, als die Verkrustung der Gegenwart. Grundlage dabei ist für mich der Beschluss des 5. SPD Parteikonvents in Berlin am 20. September 2014 zu den “Erwartungen an die transatlantischen Freihandelsgespräche„, nachzulesen unter: https://www3.spd.de/linkableblob/123760/data/20140920_parteikonvent_beschluss_ttip.pdf
Diesen Beschluss habe ich in verschiedenen öffentlichen Veranstaltungen diskutiert - er wurde überwiegend positiv bewertet. Diese Rückversicherung im offenen persönlichen Dialog hilft mir sehr, weil er die Isolationskommunikation mit meinem Bildschirm überwindet.
Nun komme ich langsam zur Antwort auf Ihre Frage:
Bisher liegen keine Beschlusstexte vor über die ich im Bundestag abstimmen soll. Es soll am Ende bis zu dreißig Verhandlungskapitel geben, von denen aber gegenwärtig nur dreizehn in Form von „konsolidierten Texten“ vorliegen.
Eigentlich will ich mich mit diesen administrativen Zwischenergebnissen nicht befassen - schließlich kann es in der Endfassung auch ganz anders aussehen. Und nach meiner Erfahrung werden plötzliche Änderungen in Endfassungen leicht übersehen, wenn man zuvor schon hundert ähnliche Vorversionen gelesen hat.
Außerdem haben wir natürlich auch im Bundestag Zuständigkeiten, Ressortprinzip und damit für alle Themen spezielle Berichterstatter - und wer denkt sich um alles kümmern zu müssen, kümmert sich um nichts richtig. Ich kümmere mich im Schwerpunkt um Finanzpolitik.
Um allerdings zu prüfen, ob die grobe Richtung der Verhandlungen die im oben erwähnten Konventbeschluss formulierten Ziele im Blick haben, lese ich die Drahtberichte, die uns nach den Verhandlungsrunden zugesandt werden und werde in Auszügen auch lesen, was die Kommission „unter geheim“ etwa 8.000 Parlamentariern in Europa verfügbar macht.
Ich vermute, dass im Leseraum neben den offiziellen Entwürfen für die Vertragstexte der Verhandlungspartner auch Dokumente zur Verhandlungsstrategie und dem Verhandlungsspielraum der EU bereit gehalten werden.
In vielen Bereichen unterscheiden sich Europa und die USA erheblich. Kulturell, im Umgang mit Energie, in Umweltfragen. In Verbraucherschutzstandards, in der Finanzmarktregulierung, in Ernährungsfragen, in Normungsfragen, in Ausschreibungsverfahren, in Regelungen zur Marktabschottung, diese Aufzählung nimmt kein Ende.
Es gibt also viel zu verhandeln, zu Geben und zu Nehmen. Und so lange es etwas ernsthaft zu verhandeln gibt, solange beide Seiten wirklich über Geben und Nehmen streiten… solange müssen die internen Verhandlungsunterlagen geheim sein. Wie sollen solche Verhandlungen denn geführt werden, wenn die Gegenseite stets weiß, was auf der andern Seite gedacht wird. Wenn Strategien, Rückfallpositionen, auch die spezielle Bedeutung bestimmter, vielleicht unverhandelbarer Dinge bekannt sind. Die Verhandlungsseite, die alles öffentlich kommuniziert, hätte schon vor Verhandlungsbeginn verloren. Deshalb halte ich die eilfertige aber wohlklingende Forderung nach „mehr Transparenz“ in diesem Fall für falsch.
Nun verhandelt die TTIP-Kommission ja auf der Grundlage der Beschlüsse des EU-Rates. Den Auftrag haben also die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten gegeben. Dieser Auftrag, das politisch legitimierte Mandat, bildet den Rahmen für die Verhandlungen der Kommission.
Allerdings haben beide Seiten schon verloren, wenn es dritte Kräfte gibt, denen auf beiden Seiten Einfluss gewährt wird. Wenn global agierende Konzerne mit Lobbydruck sowohl die Verhandlungen in den USA als auch die Verhandlungen in Europa beeinflussen (wollen), ist erhöhte Wachsamkeit geboten. Ein Beispiel dafür, dass sich Wachsamkeit an dieser Stelle lohnt, ist etwa das "Anti-Counterfeiting Trade Agreement" (ACTA) (Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen) - Scheitern als Ergebnis von „Overlobbying“ wie ich es nenne.
Nun will die Kommission mit Blick auf die öffentliche Forderung nach mehr Transparenz Zwischenergebnisse zwar nicht öffentlich machen, aber doch 8.000 Abgeordneten in Europa verfügbar machen. Gleichzeitig gilt natürlich z.B. der „Beschluss des Rates vom 23. September 2013 über die Sicherheitsvorschriften für den Schutz von EU-Verschlusssachen (2013/488/EU) (ABl. L 274, 15.10.2013)“.
Aber es gibt noch die „Besuchsregeln für die Einsichtnahme in die Verhandlungsdokumente“, die ich nachfolgend zitiere:
„Die Nutzungsmodalitäten für den Leseraum wurden zwischen der Europäischen Kommission und den USA für alle EU-Mitgliedstaaten ausgehandelt.
Die Besuchsregeln für die Einsichtnahme in die als „EU-Restricted“ gekennzeichneten Dokumente ergeben sich aus ANHANG III und IV der von der EU-Kommission und der US-Seite vereinbarten Nutzungsbedingungen (Ratsdok.-Nr. 14029/15).
Die konsolidierten vertraulichen Verhandlungsdokumente sind von der EU mit der zusätzlichen Anforderung eingestuft, dass sie nur in einem besonderen Leseraum eingesehen werden dürfen. Die Offenlegung der Dokumente oder von Ausschnitten hieraus gegenüber nicht-zugangsberechtigten Personen ist streng untersagt und kann disziplinarische und/oder rechtliche Maßnahmen nach den geltenden Gesetzen, Regelungen und Bestimmungen nach sich ziehen
Vor Zutritt zum Leseraum müssen Mobiltelefone, Kameras und andere elektronische Gerätemit einer Aufzeichnungsfunktion sowie Taschen in bereitstehenden Schließfächern eingeschlossen werden. Papier und Stifte werden vom BMWi bereitgestellt.
Vor der Einsichtnahme in die Schriftstücke muss jede/r Besucher/in die Einhaltung der Nutzungsbestimmungen durch Unterschrift auf einem Formular bestätigen, das im TTIP-Leseraum ausliegt.
Weiter werden folgende Informationen in einem Register festgehalten:
Name, Berechtigung (Name der Organisation, Funktion), Datum des Besuchs, eingesehene Dokumente, Zeit des Betretens sowie des Verlassens des Leseraums.
Über den Inhalt der eingesehenen Dokumente können handschriftliche Notizen, aber keine Abschriften gefertigt werden. Die Aufsichtsperson im TTIP-Leseraum kann sich jederzeit von der Einhaltung der Nutzungsregelungen für die Einsichtnahme der Dokumente überzeugen.
Abrufbare Dokumente
Eine aktuelle Liste der jeweils einsehbaren konsolidierten Verhandlungsdokumente ist auf der Startseite des bundestagsinternen EU-Informationssystems (EuDoX) abrufbar. Im Leseraum werden zusätzlich Aktenordner mit EU-Begleitdokumenten - die der Bundestag bereits erhalten hat - zum besseren Verständnis der einsehbaren Verhandlungsdokumente bereitstehen.“
Soweit das Zitat.
Erstens glaubt sicher niemand, es bliebe geheim, was man 8.000 Menschen zuflüstert und sei es noch so leise. Um aber die Fiktion der Geheimhaltung zu erhalten, wird nun ein kommunikatives Restriktionssystem aufgebaut, das sich wie die Entmündigung des Parlamentariers anhört. Und ich lese: „Die Nutzungsmodalitäten für den Leseraum wurden zwischen der Europäischen Kommission und den USA für alle EU-Mitgliedstaaten ausgehandelt.“ Also entscheidet irgendein Exekutivorgan (ein ausführendes Organ, Verwaltungsbeamte) in den USA ob ein demokratisch legitimiertes Mitglied des Bundestages einen Kugelschreiber haben darf. Diese „Demokratie“ mag ich nicht zu enden denken.
Es ist allerdings anzumerken, dass es inzwischen spezielle Schreibgeräte mit und ohne Spezialpapier zu kaufen gibt, mit denen man eine elektronische Kopie handschriftlicher Notizen erstellen kann. Dies dürfte wohl der Hintergrund für diese etwas merkwürdig anmutende Vorschrift sein.
Ursache für dieses Dilemma ist die Veröffentlichung von Teilergebnissen zur Unzeit. Im Stadium der Vorverhandlungen (zum Abschlussdokument), genannt „middle game“, macht es keinen Sinn, öffentlich über Unfertiges zu informieren. Sogar bei CETA, dem Comprehensive Economic and Trade Agreement, (Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen) mit Kanada, für das vertragsfertige Texte vorliegen, wird gegenwärtig über die ISDS (Investor-state dispute settlement) (Schiedsgerichte) nachverhandelt und der Vertragstext befindet sich im „legal scrubbing“ Verfahren.
Ich denke, die Verhandlungen sollen im Rahmen des politisch legitimierten Auftrags zu Ende geführt werden und wenn der ausverhandelte Vertragstext vorliegt, wird er veröffentlicht und alle Bürgerinnen und Bürger in den USA und in Europa können im Dialog mit ihren Abgeordneten die anstehenden Entscheidungen diskutieren.
Wenn die Verhandlungsführer klug sind, „hören sie rechtzeitig ins Volk hinein“ und schaffen es so, einen mehrheitsfähigen Vertrag vorzulegen. Andernfalls wird es keinen Vertrag geben und der Handel geht weiter wie bisher.
Mit freundlichen Grüßen, Ihr Lothar Binding