Frage an Lothar Binding von Maria R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Binding,
in Heidelberg werden zur Zeit Karten verteilt, auf denen die Berliner Aktivitäten von Herrn Lamers und Ihnen verglichen werden.
Es ist löblich, dass Sie so aktiv sind, aber steht die Menge der Reden u.a. wirklich für inhaltliche Qualität Ihrer Arbeit?
Wie entscheidet sich, wer im Bundestag redet?
Mit freundlichen Grüßen
Maria Rippberger
Sehr verehrte Frau Rippberger,
vielen Dank für Ihre Frage. Sie haben mit der Andeutung in Ihrer Frage Recht. Allein die Anzahl der Reden sagt nicht viel aus. Im Zweifelsfall gar nichts. Schon 1998 gab es einen ähnlichen Vergleich im Stern. Damals hatte ich mich gewundert, dass Kollege Lamers nur vier Reden gehalten hatte. "Eine Rede pro Jahr", dachte ich. Ziemlich wenig. Heute weiß ich, dass es Kolleginnen und Kollegen gibt, die nur selten Reden im Bundestag halten, aber unendlich viele Aufgaben erledigen, kompetent sind und einflussreich und es gibt sicher auch Kollegen, die viele Reden halten, viele Aufgaben erledigen, kompetent sind und einflussreich - und alle Schattierungen dazwischen.
Es kommt viel mehr darauf an, was und wie jemand arbeitet, über welche Kompetenz jemand verfügt und ob man in Berlin dafür arbeitet, was man zu Hause verspricht. Und natürlich auch was in den Reden gesagt wird und ob man anschließend so abstimmt, wie in den Reden behauptet.
Lassen Sie mich drei Beispiele geben:
Beispiel 1:
Der CDU-Kollege Lamers in Heidelberg hat eine "Partei übergreifende Initiative" gestartet: Er wolle, dass der Bund die Grundstücke der Amerikaner preiswerter an die Stadt abgeben solle, als es gegenwärtig möglich ist. Sein erster Schritt: In die Zeitung. Sein zweiter Schritt: Foto in Berlin für die Zeitung. Und so weiter. Antragsarbeit in Berlin? Fehlanzeige. Im Gegenteil: als der Bundesrat, unterstützt von der SPD Bundestagsfraktion und von Bündnis90/Die Grünen einen Antrag (Gesetzesänderung) im Bundestag einbrachte, der es erlauben sollte, die Grundstücke preiswerter abzugeben, haben CDU/FDP/CSU den Antrag im Finanzausschuss schnurstracks abgelehnt. Lamers argumentiert damit, dass der rot-grüne Antrag ja nicht europatauglich gewesen wäre - der Streit lohnt sich nicht, weil es auch um unbestimmte Rechtsbegriffe geht. Aber für Flächen in öffentlichem Interesse, für Einrichtungen für Gesundheit oder Bildung oder geförderten Wohnraum war der Antrag unstrittig europatauglich - also: Wenn Lamers den Antrag gewollt hätte, hätte er leicht einen kleinen Änderungsantrag einbringen können, der ihn nach seiner Meinung europatauglich gemacht hätte. hat er aber nicht. Im Finanzausschuss wurde einfach (ohne Änderungsantrag) abgelehnt. Chance vertan. Ich war froh, dass der Mieterverein Heidelberg auf dem Deutschen Mietertag mit einem ähnlichen Antrag erfolgreich war. Franziska Brantner und ich haben uns vorgenommen, bei entsprechenden Mehrheiten, hier nach der Wahl wieder aktiv zu werden. Hoffentlich ist es dann nicht zu spät für Heidelberg.
Beispiel 2:
Am 6. Mai 2010 hat Kollege Lamers eine seiner 7 Reden im Bundestag gehalten. Zur Wehrpflicht. Ich zitiere daraus ein wenig: "Erstens hat sich die Wehrpflicht in mehr als fünf Jahrzehnten bewährt. Zweitens ist sie Ausdruck der persönlichen Mitverantwortung der Bürger für ein Leben in Frieden und Freiheit. Drittens ist sie ein Symbol für den gesellschaftlichen Konsens über die Landes- und Bündnisverteidigung. Außerdem verbindet die Wehrpflicht unsere Streitkräfte mit der Gesellschaft und verhindert Entfremdung und Abschottung von dieser. . Gerade heute werden unsere Wehrpflichtigen gebraucht, um zum Beispiel die Grundorganisation der Streitkräfte sicherzustellen, indem sie in der Heimat notwendige Aufgaben übernehmen." Und so weiter und so weiter. Seit Juli 2011 hat schwarz-gelb die Wehrpflicht abgeschafft.
Beispiel 3:
Lesen Sie den Koalitionsvertrag von CDU/CSU/FDP. Dort finden Sie etwas zur "Gewerbesteuer", zur "vorausgefüllten Steuererklärung", zur "Gleichstellung von Lebenspartnern mit Ehegatten", zur "Praxis der Nichtanwendungserlasse", zur "Steuererklärung auch für einen Zeitraum von zwei Jahren abgeben", zu Steuersenkungen "Entlastung.für die Familien mit Kindern in einem Gesamtvolumen von 24 Mrd. Euro." Dies alles finden Sie auf nur 2 von 132 Seiten. Und nichts davon wurde umgesetzt. Wieder stärker aufgerissen wurden einige Steuerschlupflöcher für Konzerne, etwa durch Anhebung der Zinsschranke und neu eingeführt wurde die Ausnahme für Hotels in der Mehrwertsteuer.
Und Kollege Lamers wirbt in seinen großen Wahlkampfanzeigen mit "weiterhin eine verlässliche . Politik der Mitte.". Mit Blick auf den Koalitionsvertrag kann man schon fragen : Was ist das eigentlich für eine Art von "Verlässlichkeit"?
Eine wichtige Bemerkung: Die Meinung zu ändern ist erlaubt, wie es erlaubt ist dazu zu lernen. Auch ich bin schon in Heidelberg mit einer Meinung gestartet (ich denke an die vielen Ausnahmen in der Mehrwertsteuer) und in Berlin mit einer anderen Meinung angekommen (der Gegendruck zur Abschaffung von Ausnahmen wurde zu groß). Allerdings muss ich solche Meinungsumschwünge erklären und nicht stillschweigend vornehmen und hoffen, dass das im Wahlkreis nicht bemerkt wird. Ein formales Instrument dafür ist die persönliche Erklärung im Protokoll des Bundestages. davon gibt es einige von mir.
Sie sehen, dass ich der Anzahl der Reden keine große Bedeutung beimesse. Aber sie sind ein schöner Anlass, die Arbeit aller Abgeordneten genauer unter die Lupe zu nehmen.
In großen Fraktionen gibt es für praktisch jedes wichtige Thema mehrere Spezialisten, Fachleute, die von ihrer Fraktion gern mit Aufträgen etwas zu schreiben oder eine Rede zu halten beauftragt werden. In kleinen Fraktionen kann es passieren, dass nur wenige oder sehr wenige in einem speziellen Thema kompetent sind. So hat z.B. ein Kollege der FPD in den 251 Sitzungstagen des Bundestages in den vergangen Legislaturperiode 140 Reden gehalten, weil er in seiner Fraktion auf diesem Gebiet besondere Kompetenz hat. In großen Fraktionen teilen sich Arbeit und Anzahl der Reden stärker auf.
Auch die Anzahl der Ausschusssitzungen, bzw. der im Plenum behandelten Tagesordnungspunkte bestimmen die Anzahl der Reden mit. Es gibt Zeiten, in denen sind bestimmte Ausschüsse sehr gefordert, dann gibt es auch mehr Gelegenheit zu reden. Als Beispiel möchte ich die Probleme am Finanzmarkt bzw. die Bankenkrise nennen. Diese Themen haben sowohl den Finanz- als auch den Haushaltsausschuss besonders gefordert. Aber auch die (wenn auch zögerlich angegangene) Bundeswehrreform oder Auslandseinsätze der Bundeswehr in Afghanistan oder der Untersuchungsausschuss des Bundestags zur Klärung der Vorwürfe gegen de Maizière wegen der Euro-Hawk-Entscheidungen bzw. seiner Entscheidungsschwächen sind Beispiele für besondere Aktivitäten im Verteidigungsausschuss.
Manche Kolleginnen und Kollegen haben auch externe Aufgaben, sitzen in Gremien der EU, der NATO, in Aufsichtsräten etc. Aber wir sind ja auch nur 22 Wochen des Jahres in Berlin und man muss sich natürlich so organisieren, dass die parlamentarische Arbeit im Bundestag und die Vertretung des Wahlkreises nicht darunter leidet.
Last but not least ist die Anzahl der Reden natürlich in der Einarbeitungsphase etwas geringer. Reden im Bundestag erfordern Vorbereitungszeit und jeder erwartet von sich selbst einen fundierten fachlichen Hintergrund. Wenn man nicht zufällig in Themen arbeitet, mit denen man beruflich zuvor befasst war, braucht man eine ganze Weile, bis man in den wichtigsten Themen eines Ausschusses ein gutes Fundament hat.
Das führt mich zur Antwort auf Ihre zweite Frage: "Wie entscheidet sich, wer im Bundestag redet?" Zunächst werden im Ältestenrat die Tagesordnung des Plenums und die Zeiten für die einzelnen Tagesordnungspunkte festgelegt. Das Plenum des Bundestages tagt Freitag und Donnerstag. Die Vorbereitung der Tagesordnungspunkte im Plenum erfolgt mittwochs im jeweiligen Ausschuss, also im Finanzausschuss, Verteidigungsausschuss, Umweltausschuss etc. In den Ausschüssen, sind die jeweiligen Fachleute aus allen Fraktionen zu finden, die sich zur Vorbereitung des Ausschusses am Dienstag in der jeweiligen Fach-Arbeitsgruppe treffen. Ich bin z.B. in der Arbeitsgruppe der SPD Fraktion für Finanzen, zurzeit ihr Sprecher, manchmal Obmann oder Vorsitzender genannt.
Abhängig vom Wahlergebnis und damit von der Größe der Fraktionen, sind die Redezeiten in den Legislaturperioden unterschiedlich. Gegenwärtig gilt folgender Schlüssel: Bei einer Gesamtredezeit für einen Tagesordnungspunkt von 60 Minuten stehen den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP zusammen 32 Minuten und der Opposition 28 Minuten zur Verfügung:
. CDU/CSU 23 Minuten,
. SPD 14 Minuten,
. FDP 9 Minuten,
. Linke 7 Minuten,
. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 7 Minuten.
Dabei werden die von Mitgliedern der Bundesregierung und des Bundesrates in Anspruch genommene Redezeiten auf die jeweilige Redezeit der Fraktionen angerechnet.
Sind für einen Tagesordnungspunkt mehr oder weniger Stunden vorgesehen, verlängern oder verkürzen sich die Redezeiten entsprechend.
Die SPD Arbeitsgruppen legen am Dienstag fest, welche Kolleginnen und Kollegen donnerstags oder freitags im Plenum reden; damit ist im Regelfall auch klar, wer am Mittwoch im Ausschuss besonders gut vorbereitet sein muss - die Berichterstatterin oder der Berichterstatter. Wir bevorzugen es oft zwei oder drei Redner festzulegen, weil das die flexible Reaktionsmöglichkeit im Plenum erhöht. Denn dort ist ja eine feste Rede-Reihenfolge vorgegeben und wenn z.B. unser einziger Redner schon anfangs redet, können wir nicht mehr auf die nachfolgenden Rednerinnen oder Redner reagieren. Bei 14 Minuten wäre eine Aufteilung auf zwei Redner mit 9 für den ersten und 5 Minuten für den zweiten denkbar.
Auf der Postkarte, die Sie ansprechen, werden die Anzahl der Reden in vier Jahren, die Wortbeiträge und die Gruppeninitiativen verglichen. Wie diese Vergleichsparameter definiert sind, finden sie unter folgendem Link.
http://www.zeit.de/politik/deutschland/abgeordnetenbilanz/?partei=-&ansicht=ml&kategorie=5
Ich beteilige mich an Gruppeninitiativen, wenn mich das Thema besonders interessiert und ich es für besonders wichtig halte. Das bedeutet nicht, dass ich dafür sehr viel arbeite - fachlich bin ich auf die Fachkolleginnen und Fachkollegen angewiesen. Allerdings können so Bürgerinnen und Bürger schneller erkennen, um welche Themen ich mich neben meinen eigenen Fachthemen in der Finanz- und Haushaltspolitik kümmern möchte. Oft entstehen auf diesem Weg Bürgergespräche: "ich habe Ihren Namen beim Thema Prävention und Pflege gefunden. und möchte ein Gespräch mit Ihnen darüber führen.". Dabei kann ich den Entscheidungsprozess im Bundestag erläutern - aber viel wichtiger: Ich lerne von den Bürgerinnen und Bürgern unendlich viel und ich sehe es als einen großen Vorteil an, das Wissen von den Bürgern zu meinen Fachkollegen im Parlament zu tragen. Das Wissen von professionellen Experten und das Wissen von Betroffenen, im Regelfall für ihre Lebenslage die besten Experten.
Eine kleine Bemerkung zum Schluss: Zahlen sagen manchmal auch das Gegenteil. Es ist wie bei einem Riemenantrieb. Mit einem bestimmten Drehmoment, bestimmter Kraft und bestimmtem Hebelarm haben Sie einen prima Antrieb für eine Maschine, läuft der Riemen aber zu schnell, dreht er durch, wird heiß und obwohl der Antriebsmotor wie verrückt läuft, steht die Maschine still. Eine Linke-Politikerkollegin stellte in der vergangenen Legislaturperiode 958 Fragen an die Bundesregierung und löste damit einen FDP Kollegen ab, der in der vorigen Legislaturperiode über 600 Fragen gestellt hatte. Bei über 600 Abgeordneten, kann man sich schnell überlegen, dass sich so die Regierungsarbeit nicht verbessern lässt. Abgesehen davon ist zweifelhaft ob diese vielen Fragen und Antworten seriös vor- und nachbereitet und mit den Bürgerinnen besprochen werden (können). Um im Bild zu bleiben: Hier dreht der Riemen zu schnell, dreht durch, wird heiß und verschwendet gesellschaftliche Ressourcen und produktive Arbeitskraft im Parlament.
Bitte entschuldigen Sie die lange Antwort.
Mit freundlichen Grüßen, Ihr Lothar Binding