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Frage von Juergen E. •

Frage an Lothar Binding von Juergen E. bezüglich Wirtschaft

Sehr geehrter Herr Binding

aufgrund des vielen Nachtraege, Ergaenzungen und Erweiterungen in den letzten 12 Monaten habe ich etwas den Ueberblick ueber meinen Schuldenstand /-Buergschaft fuer die Laender Griechenland, Irland und Portugal verloren.

lt Focus 19/2011 S.58 betraegt der akt. Wert fuer Deutschland 391 Mrd Euro. Fuer uns als 4-koepfige Famile waeren das rund 20.000 Euro.

Stimmen diese Zahlen?

Ich wundere mich etwas, dass der deutsche Steuerzahler mit 65+ in Rente gehen darf wogegen sein griechischer Kollege, dessen Staat ja Pleite ist, schon mit 60 in Rente geht (s. Wiwo Ausgabe 19).

Wie werden Sie im Bundestag bei der Verabschiedung des neuen ESM abstimmen?

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Engert,

vielen Dank für Ihre Frage. Die Berechnung des Focus möchte ich nicht zur Grundlage meiner Antwort machen. Oft sind die Berechnungen bzw. deren Voraussetzungen nicht nachvollziehbar.

Gleichwohl einige Bemerkungen zu den von Ihnen angesprochenen Themen Altersvorsorge und Schuldenstand: Die Organisation für wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat das offizielle und das tatsächliche Renteneintrittsalter in verschiedenen Ländern miteinander verglichen. Die Ergebnisse sind eine gute Erinnerung daran, dass man sich mit scheinbar klaren und eindeutigen Urteilen zurückhalten sollte. Sie schreiben „dass der deutsche Steuerzahler mit 65+ in Rente gehen darf wogegen sein griechischer Kollege, dessen Staat ja Pleite ist, schon mit 60 in Rente geht“. Solche Verknüpfung von zwei beliebig gewählten Parametern führt oft in die Irre.

Das offizielle Renteneintrittsalter in Griechenland liegt zwar bei lediglich 57 Jahren, in Deutschland gegenwärtig bei 65 Jahren – das tatsächliche Renteneintrittsalter in Griechenland hingegen liegt bei 61,9 Jahren, in Deutschland dagegen im Durchschnitt mit 61,8 Jahren. In Portugal arbeitet man sogar bis 67 – und trotzdem musste das Land finanzielle Unterstützung des IWF und des EFSM in Anspruch nehmen.

Ich erwähne dies, weil einfache Erklärungen und darauf aufbauende politische und wirtschaftliche Ratschläge oft zu schlicht sind, um den Schwierigkeiten von Griechenland – oder anderen Staaten mit Refinanzierungsschwierigkeiten – gerecht zu werden: Mehr sparen, weniger ausgeben, länger arbeiten, Staatsbetriebe modernisieren, Sozialleistungen kürzen, bei Bildung und Ausbildung sparen, vielleicht ein oder zwei Inseln verkaufen… Ich übertreibe ein wenig, um auf einen Zusammenhang aufmerksam zu machen, der mir wichtig ist: Die finanzielle Unterstützung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Union wird zwar richtigerweise an die Einhaltung von Bedingungen geknüpft, um die Verschuldung Griechenlands zu reduzieren, ihre Steuereinnahmen zu erhöhen und die Staatsausgaben zu senken.

Dieser Ansatz greift allerdings nach Einschätzung der SPD-Fraktion zu kurz:

„Insgesamt konzentrieren sich die ergriffenen Maßnahmen bislang einseitig auf Schuldenreduzierung und eine strikte Austeritätspolitik. (meine Erläuterung: Strenge, Sparsamkeit, staatliche Sparpolitik) Dabei bleibt auch unklar, wie Staaten mit Leistungsbilanzdefiziten ohne gezielte Wachstumsprogramme die notwendigen Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit erreichen können. Mit dem Pakt für Wettbewerbsfähigkeit, den die Bundesregierung nun vorgeschlagen hat, werden eine Ökonomisierung der Sozialpolitik und ein nicht akzeptabler Sozialabbau verfolgt. Beides untergräbt das Vertrauen der Bevölkerung in eine europäische Sozialpolitik und geht in weiten Teilen an den Problemen vorbei.“ (Antrag der SPD-Bundestagsfraktion 17/5095, 15.3.11, S. 2).

Es ist aus unserer Sicht notwendig, über andere Lösungswege nachzudenken, etwa über eine Stärkung der Binnennachfrage in Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen oder eine Art von europäischem „Marshall-Plan“ für Griechenland, die dem Land helfen, seine wirtschaftliche und finanzielle Selbstständigkeit zurückzuerlangen.

Ich kann derzeit allerdings keine Vorschläge der Bundesregierung erkennen, wie sie Griechenland dabei helfen will, wirksam seine strukturellen wirtschaftlichen Probleme zu lösen und zu verhindern, dass das Land in permanente Refinanzierungsschwierigkeiten an den Kapitalmärkten gerät und damit dauerhaft auf Unterstützung der anderen EU-Mitgliedstaaten angewiesen bleibt. Das Dilemma bleibt: ein zu harter Sparkurs ohne begleitende Maßnahmen der Wirtschaftsförderung vergrößert den Rückstand gegenüber anderen Staaten, schadet dauerhaft der Wettbewerbsfähigkeit und dem Wirtschaftswachstum, erhöht die Leistungsbilanzdefizite weiter, verschreckt potentielle Geldgeber, treibt die private und staatliche Verschuldung nach oben, läutet eine neue Runde an Sparmaßnahmen ein… – und alles beginnt von vorne. Und wie soll eine Regierung diese „Roßkur“ politisch überleben? Wir sollten nicht „automatisch“ davon ausgehen, dass demokratische Parteien immer stark genug und willens sind, ihre Wählerinnen und Wählern auf einen langen und steinigen „Leidensweg“ mit ungewissem Ausgang zu führen.

Ich hoffe, die Überlegungen der Bundesregierung beschränken sich nicht auf populistische Äußerungen von Frau Merkel zu den (vermeintlichen) Unterschieden zwischen griechischen und deutschen Rentnern. Es steht zu befürchten, dass die schweren Konflikte zwischen der Regierungsfraktionen CDU, CSU und FDP und die – leider wieder heftige und verständliche – Kritik aus anderen europäischen Staaten unsere Verhandlungsposition in Europa schwächen und es schwieriger machen, deutsche und europäische Interessen im Gleichklang weiter zu entwickeln.

Zu Ihrer Frage nach meiner Haltung zum ESM: Der Vertragsentwurf zur Errichtung des Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) soll demnächst im Bundestag beraten werden. Mit dem ESM soll eine Einrichtung geschaffen werden, um einen Staat mit Liquiditäts- oder Solvenzproblemen zu unterstützen, die eine Gefährdung der Finanzstabilität der Eurozone darstellen. Deutschland beteiligt sich mit insgesamt 190 Mrd. Euro an der Kapitalisierung des Fonds; dazu gehören eine Bareinzahlung in fünf gleichmäßigen Jahresraten ab 2013 in den Kapitalstock des Fonds (22 Mrd. Euro), abrufbares Kapital und Garantiezusagen (168 Mrd. Euro).

Es wird in den parlamentarischen Beratungen auch darum gehen, die Haushaltsrisiken für Deutschland und die Beschränkungen der parlamentarischen Budgethoheit zu prüfen, die sich aus den „technischen Details“ des ESM-Vertragsentwurfs erkennen lassen. Ich denke etwa an die Ausnahme von der – eigentlich vorgesehenen – Einstimmigkeitsregel bei Beschlüssen über den Kapitalabruf im Verwaltungsrat, dem obersten Lenkungsgremium des ESM. Das hat folgenden Hintergrund: Der ESM springt bei Zahlungsschwierigkeiten eines Mitgliedsstaats ein, der ESM-Kredite in Anspruch genommen hat, um dessen Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern zu bedienen. Der Verwaltungsrat des ESM kann dann beschließen, den Kapitalstock des Fonds über eine Nachschusspflicht der anderen Mitgliedstaaten wieder aufzufüllen. Auch in der Phase des Kapitalaufbaus kann es zu höheren Zahlungsverpflichtungen kommen, da der Bar-Kapitalstock mindestens 15 % der ausstehenden Darlehen an Mitgliedstaaten in Schwierigkeiten betragen soll. In diesem Fall sollen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel schneller bereitstellen. Wie dies genau funktionieren soll und welche finanziellen Auswirkungen und Risiken damit für Deutschland verbunden sein werden, wollen wir im Finanz- und im Haushaltsausschuss genauer hinterfragen.

Auch die Überlegungen der Bundesregierung zur Beteiligung privater Gläubiger – also insbesondere von Banken, Versicherungen, Investment- und Vermögensverwaltungs-gesellschaften – an den ESM-Rettungsmaßnahmen finde ich nicht überzeugend. Bislang ist lediglich eine unverbindliche „Ermunterung“ vorgesehen, ihr Engagement beizubehalten, wenn Zahlungsschwierigkeiten drohen – die SPD-Fraktion spricht sich im o.g. Antrag hingegen für eine obligatorische Beteiligung privater Gläubiger an Rettungsmaßnahmen aus, um die Belastungen für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu verhindern oder zumindest zu verringern. Wir dürfen den Weg in die „galoppierende“ öffentliche Verschuldung bei zunehmendem privaten Reichtum einzelner Reicher nicht länger hinnehmen. Denn „öffentliche“ Verschuldung – deshalb finde ich Ihre Frage so wichtig – meint ja eigentlich die Verschuldung jedes einzelnen, also auch Ihre Verschuldung.

Ich hoffe, Ihnen einen Einblick in meine Überlegungen ermöglicht zu haben, und verbleibe

mit freundlichem Gruß, Lothar Binding