Frage an Lale Akgün von Peter D. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Werte Frau Dr. Akgün,
ich habe Sie vor drei Jahren gewählt, auch weil ich recht angetan war von Ihrem furiosen Wahlkampf. Hinzu kam: Mir hatte auch der Kandidat der Union nicht besonders gefallen. Er war sehr unseriös, und ich jetzt höre ich, dass er es erneut probieren will. So hat die CDU nur meine zweite Stimme bekommen. Ich hatte Sie damals auch an einem SPD-Stand angesprochen in Sülz. Vielleicht erinnern Sie sich noch. Nun ist es ziemlich ruhig um Sie geworden, und machmal habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht die Lust verloren haben an Ihrem Mandat. Man hört so viel von Herrn Beck von den Grünen, wenn es um wichtige politische Fragen geht, die unser Land betreffen. Dass Sie stattdessen schöngeistige Weihnachtsliteratur produzieren, hat mich und einige meiner Bekannten zusätzlich irritiert, als wir neulich davon in der "Welt" lasen.
http://www.welt.de/welt_print/article2801632/Lachen-bis-der-Doktor-kommt.html
Meine erste Frage an Sie lautet daher: Warum äußern Sie sich nie zu den ungelösten Fragen der Einwanderung und der Integration? Was sind denn eigentlich Ihre Haltungen zu diesen eminent wichtigen Themen? Was ist Ihr Konzept?
Herr Özdemir hat sich vor einigen Tagen - wie ich finde sehr richtig - zu dem Genozid geäußert, das der türkische Staat an den Armeniern verübt hat:
"Rund 200 türkische Intellektuelle haben sich in einer Erklärung für das Massaker an 1,5 Millionen Armeniern zu Zeiten des Ersten Weltkriegs entschuldigt. Das Thema gilt in der türkischen Gesellschaft als Tabuthema. Auch Grünen-Chef Cem Özdemir gehört zu den Unterzeichnern."
http://www.welt.de/politik/article2885645/Oezdemir-unterzeichnet-Entschuldigung-an-Armenier.html
Daher die zweite Frage , die mir "auf den Nägeln brennt":
Haben Sie obigen Aufruf auch schon unterzeichnet? Wenn nein, warum nicht?
Haben Sie vielen Dank für Ihre Antworten. Ich (und einige meiner Bekannten) sind sehr gespannt.
Mit freundlichen Grüßen
Peter Deggendorfer
Sehr geehrter Herr Deggendorfer,
haben Sie vielen Dank für Ihre Fragen, bei der Beantwortung möchte mit Ihrer zweiten Frage beginnen.
Den Aufruf "Ich entschuldige mich", habe ich in der vergangenen Woche unterzeichnet.
Der Text, den ich unterschrieben habe, lautet auf Deutsch: "Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, dass die Katastrophe, die die Armenier des Osmanischen Reiches 1915 ereilte, verleugnet und ihr teilnahmslos begegnet wird. Ich lehne dieses Unrecht ab und teile die Gefühle und den Schmerz meiner armenischen Brüder und Schwestern und entschuldige mich bei Ihnen."
Mit der Unterzeichnung möchte ich einen Beitrag dazu leisten, dass die Katastrophe von 1915 aufgearbeitet wird. Heute geht es nicht mehr um Schuld: die Täter sind schon längst gestorben. Ich wünsche mir aber, dass die Initiative der Internetpetition positiv aufgenommen wird und eine aktive und freundschaftliche Nachbarschaftspolitik mit Armenien und den Armeniern begünstigt. Es ist an der Zeit, alte Wunden zu heilen. Ein versöhnliches Miteinander der Staaten war und ist der Grundpfeiler der Europäischen Union vergangenes Unrecht an Armeniern soll nicht mehr geleugnet werden.
Ich bin sehr froh und beeindruckt, dass eine große Zahl von Journalisten, Schriftstellern und anderen Intellektuellen den Aufruf unterzeichnet hat. Darunter sind auch Imame und Generäle, Hausfrauen und Studenten und auch sehr viele Menschen aus der Osttürkei, wo vor 1915 die Mehrheit der Armenier gelebt hat. Für mich zeigt das, dass die türkische Gesellschaft bereit ist, für das geschehene Unrecht kollektive Verantwortung zu übernehmen.
Zu den Fragen von Einwanderung und Integration habe ich eine differenzierte Position. Allgemein gesprochen denke ich, dass wir aus demographischen Gründen für Deutschland und Europa ein Einwanderungssystem aus einer Mischung von Punktesystem und Engpasszuwanderung brauchen. Wir müssen uns also als Gesellschaft aber auch durch politische Maßnahmen darauf einstellen, dass unser Land ethnisch und religiös immer vielfältiger werden wird.
Im Bereich der Integration von Eingewanderten stehen meines Erachtens in der nahen Zukunft folgende Maßnahmen an:
- Einführung des kommunalen Wahlrechts für Drittstaatsangehörige, die mindestens fünf Jahre rechtmäßig in Deutschland leben.
- Abschaffung des Optionsmodells und die doppelte Staatsangehörigkeit als möglicher Regelfall Erleichterung von Einbürgerungen und die Abschaffung von Einbürgerungshürden.
- Eine breite Bildungsoffensive, die die Chancenungerechtigkeit von Migrantenkindern in der Schule beseitigt
- Ein institutionalisiertes Verfahren zur Überprüfung der aus dem Ausland mitgebrachten Berufs- und Studienabschlüssen, welches zur Anerkennung der mitgebrachten Leistungen führt und die Möglichkeit der Nachqualifizierung bzw. Fortbildung bietet, sofern dies notwendig ist. Dies ist auch als Maßnahme gegen die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und des Armutsrisikos von Migranten zu sehen
- Ausweitung von Förderprogrammen und Antidiskriminierungsbestimmungen, um den Anteil der Migranten bei den Auszubildenden zu erhöhen
- Eine neue "Altfall-" und Bleiberechtsregelung, die die rechtliche Unsicherheit aller bislang Geduldeten tatsächlich beendet.
In meinem Buch "Tante Semra im Leberkäseland" geht es mir darum, meine Normalität und die meiner Familie, mit der ich als Kind 1962 aus der Türkei nach Deutschland ausgewandert bin, zu beschreiben. Dieses Buch ist die Lebensgeschichte einer türkischstämmigen Familie in Deutschland und erhebt nicht den Anspruch, prototypisch zu sein.
Was den Kommentar von Herrn Giordano zu meinem Buch anbelangt, so bitte ich Sie meine Replik "Warum ich Otto-Normal-Muslimin bin", der ebenfalls in der "Welt" erschienen ist.
Ich denke, dass der Kommentar von Ralph Giordano offenbart meiner Meinung nach, dass Dilemma in dem viele Menschen mit türkischem Hintergrund in Deutschland leben; sie werden ständig dazu aufgefordert, sich zu sozialen Pathologien wie "Zwangsheiraten" und "Ehrenmorden" zu äußern, da diese angeblich türkischen oder muslimischen Ursprungs seien. Deutschtürken, hingegen, die mit Humor über ihre ganz normalen Alltagsprobleme berichten, sind da offenbar suspekt und irgendwie ungehörig.
Bitte besuchen Sie auch meine Internetseite, auf der ich mich zu allen hier angesprochenen und weiteren politischen Fragen äußere.
Mit freundlichen Grüßen,
Ihre
Lale Akgün