Frage an Kurt Rieder von Matthias J. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Rieder,
realistisch betrachtet hat die ÖDP genau wie viele andere Öko-Splitterparteien nur eine theoretische Chance, in den Bundestag einzuziehen.
Was wäre Ihnen lieber:
Szenario a:
Viele Wähler geben ihre Stimme der ÖDP, aber am Ende reicht es weder für die ÖDP noch für die Grünen und ökologische Themen haben keine Stimme mehr im Bundestag
oder Szenario b:
Die Wähler, denen ökologische Themen wichtig sind, wählen aus taktischen Erwägungen die Grünen, auch wenn sich einem bei einigen der Standpunkte der Grünen die Fußnägel aufrollen
Bitte machen Sie deutlich, wo die entscheidenden Unterschiede zu den Grünen liegen und in welchen Fällen es sinnvoll sein soll, die ÖDP zu wählen.
Sehr geehrter Herr Junk,
vielen Dank für Ihre Frage bei abgeordnetenwatch.de.
Die ÖDP ist eine kleine, aber den Gesamt-Forderungskatalog betrachtet, sicherlich keine "Splitterpartei". Sie ist eine der wenigen demokratischen Parteien, die sich über Jahrzehnte "gehalten" hat, obwohl sie noch kein Bundes- oder Landtagsmandat erringen konnte. Immerhin ist sie seit der letzten Europawahl im EU-Parlament vertreten und in etlichen Stadt- und Bezirksparlamenten vertreten. In vielen Bundesländern steigt das Interesse an ÖDP-Politik spürbar und nachhaltig.
Ihre Frage ist natürlich dennoch berechtigt.
Aus meiner Sicht bedarf es einer Partei wie der gut strukturierten ÖDP, allein, um den "Grünen" (ggf. ausserparlamentarischen) Druck in Sachen "Umwelt- und Sozialpolitik" zu machen. Als ehemaliger "Grünen"-Wähler Anfang der 80er habe ich bei jeder Wahl um den Einzug der neuen Bewegung am Fernseher "gezittert". Mittlerweile aber "schüttelt" es mich, wenn ich manche (Nicht-)Entscheidungen der nur noch dem Namen nach "Grünen" auf Bundes- und Länderebene mitverfolge. Das hat mit Umwelt- und Sozialpolitik nichts mehr zu tun.
In vielen Bundesländern, so auch in NRW, überholt die einst eher "konservative ÖDP" mittlerweile die ehemals "Alternativen Grünen" links. Sie hat sich zu einem (wenn auch nicht bedingungslosen) Grundeinkommen auf Bundesebene mit mehr als 80 % Zustimmung durchgerungen, während z.B. die Initiative "Grünes Netzwerk Grundeinkommen" immer noch vor sich her dümpelt.
Die ÖDP ist glasklar in Sachen "Lobbyismus, Parteispenden und Politikern in Aufsichtsräten" mit einem "Nein" aufgestellt - nimmt seit 35 Jahren vorbildhaft alle Unternehmens- und Verbandsspenden ab und fordert ein Parteispendenverbot, während die "Grünen" lediglich mehr "Transparenz und Offenlegung" fordern.
Die "Grünen" haben in NRW in der Regierung es nicht vermocht, auch nur einen "Piep" am dringenden Ausstieg aus Braun- und Steinkohle zu verändern und fordern Abschaffungsfristen, die selbst von der "Linken" weit unterboten werden. Sie haben das Thema "Marode belgische AKWs" und "Brennelemente-Lieferungen aus Deutschland an hochkritische ausländische AKWs" erst angepackt, als ÖDP und Linke die Brisanz in die Medien gebracht haben und sind dann "auf den anfahrenden Zug aufgesprungen und haben den Lokomotivführer gemimt".
Die "Grünen" haben nichts in Sachen "Massentierhaltung" unternommen, fordern keine Steuern nach dem "ökologischen Fußabdruck".
Sie verfolgen (zumindest in NRW, aber auch in anderen Bundesländern) eine Bildungspolitik, die weit ab ist "von Gut und Böse" und ohne jeglichen Sachverstand und Realitätssinn ist.
Die ÖDP steht für eine Asylpolitik, die das geltende Asylrecht voll unterstützt. Sie ist sich aber darüber bewusst, dass es mit "süßer Willkommenskultur" allein nicht getan ist. Probleme müssen weit vorab angegangen werden: es gilt, nicht nur bei diesem Thema: "Brandschutz vor Feuerwehr".
Das bringt den nächsten gravierenden Unterschied zwischen ÖDP und Grünen zutage: Die ÖDP sieht Deutschland als global verantwortliches Land und fordert die Abkehr vom "Exportweltmeistertum" und eine Gemeinwohlökonomie. Weiteres Wirtschaftswachstum wird - im Gegensatz zu allen anderen Parteien - äußerst kritisch gesehen, ja in großen Teilen abgelehnt.
Wenn aber Herr Cem Özdemir im Bundestagswahlkampf plakatiert, dass "zwischen Umweltschutz und Wirtschaft kein ODER gehört" - so ist dies genau die Politik, die nur noch "butterweich" daherkommt und alle Koalitionsoptionen offen lässt. Das ist m.E. die Fortsetzung einer Politik des "Veggiedays in Betriebskantinen an Donnerstagen", die schon im Bundestagswahlkampf 2013 zurecht abgestraft wurde - reine Symbolpolitik.
Aus meiner Sicht sind die "Grünen alt und satt" geworden, die Partei in sich kaum noch reformierbar.
Der verantwortungsbewusste und progressive Wähler sollte dies bei seiner Wahlentscheidung bedenken und endlich einmal nach seiner Überzeugung und nicht "vermeintlich taktisch" wählen. Er betrügt sich selbst und wählt "Mogelpackungen". Eine "Jamaika-Koalition" wird nicht mehr nur in Hinterzimmern verhandelt. Sie ist reale "Option". Wie bei solch einem Verbund noch dringend notwendige Reformen in Sachen Klimawandel und eine Wiederhinkehr zum Sozialstaatsprinzip erfolgen soll, entzieht sich meiner Vorstellungskraft.
Die Ausführungen spiegeln meine ganz persönlichen Ansichten wider und stellen keinen Anspruch auf Vollständigkeit dar.
Ich hoffe aber, sie regen zum Nachdenken an.
Nochmals herzlichen Dank für Ihre Frage.
Freundliche Grüße aus dem Dreiländereck bei Aachen
Kurt Rieder