Frage an Koray Yılmaz-Günay von Hans G. K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Mit einem unsäglichen Flugblatt macht die "BIG-Partei" auch im Schöneberger Norden derzeit Stimmung gegen die an Berliner Schulen geplanten Unterrichtseinheiten zum Themenkomplex "Homosexualität / andere Formen des (Zusammen)Lebens / Gegen Diskriminierung von Homosexuellen / Bisexuellen".
Offenbar auf Grundlage eines BZ-Artikels vom 20. Juni 2011 titelt die "BIG" auf dem Flugblatt "Alle Kinder schützen. Gegen Schulfach »Schwul«". Die "BIG-Partei" gibt dann nicht nur falsche oder zumindest irreführende Informationen - gezielt auch an türkischsprachige MitbürgerInnen und Eltern (Flugblatt ist auf Deutsch und Türkisch formuliert) -, sondern versucht hier offensichtlich, auf Kosten einer Minderheit ihre eigenen Interessen zu publizieren und wahltaktisch davon zu profitieren. In dem Flyer wird u.a. fälschlicherweise behauptet, dass Erstklässlern Begriffe wie "Darkroom" oder "Selbstbefriedigung" näher gebracht werden sollen. Auch wird angedeutet, dass Kinder im Unterricht homosexuell gemacht werden könnten: "Durch die werbende Darstellung der homosexuellen Lebensform im Unterricht wird das Recht der Eltern auf Vermittlung der eigenen Werte ausgehebelt. Wir dürfen nicht mehr entscheiden, wovor wir unsere Kinder bewahren wollen", so steht es in der deutschen Version des Flugblatts.
Die "BIG" ruft in diesem Zusammenhang über facebook auch zu einer "Aufsehen erregenden" Aktion am Einschulungstag, dem kommenden Samstag, vor Berliner Grundschulen auf und rekrutiert dafür sogar offen Schüler, die an dieser "Aktion" teilnehmen sollen.
Wie stehen Sie zu diesem Flugblatt und dieser Art von "Wahlkampf" der "BIG-Partei"?
Sehr geehrter Herr Kegel,
haben Sie Dank für Ihre Frage. Ich verfolge diese «Schulfach: Schwul»-Debatte durchaus auch aus einem eigenen Interesse heraus. Bereits in dem gleichnamigen Artikel, den die «BZ» gegen Ende Juni veröffentlicht hatte, kam die These auf, dass Grundschulkinder mit anstößigen Begriffen konfrontiert würden. In dem wirren Artikel wurde auch auf einen Verein verwiesen, bei dem ich mal pädagogisches Material zum Abbau von Frauen-, Lesben- und Schwulenfeindlichkeit entwickelt habe. Deswegen erhielt ich mehrere aufgeregte Anrufe, die fragten, ob ich es sei, der solche Methoden entwickelt hätte. Habe ich natürlich nicht.
Sie werden die Debatte verfolgen und wissen, dass die Handreichung «Lesbische und schwule Lebensweisen» von der Senatsbildungsverwaltung herausgegeben wurde - und zwar schon im Jahr 2006. Die erwähnten Methoden richten sich an ältere Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen, nicht an Grundschulkinder. Aus meiner erwähnten Arbeit, in deren Rahmen ich auch Workshops mit Lehrkräften und Jugendlichen angeboten habe, weiß ich allerdings, dass diese Handreichung selten benutzt wird. Die meisten Lehrkräfte sind sich nicht sicher, ob/wie/zu welchem Zeitpunkt die vorgeschlagenen Methoden eingesetzt werden sollten/könnten. Gleichgeschlechtliche Lebensweisen und ihre Akzeptanz kommen im Berliner Schulunterricht immer noch sehr selten vor - und meistens nur dann, wenn diskriminierungssensible Lehrkräfte sich dahinterklemmen.
Dabei wäre es besonders wichtig, Heranwachsenden eine Orientierung über die unterschiedlichsten Lebensweisen zu geben. Gerade in einem Alter, wo Sexualität und Geschlecht entdeckt werden, wäre die vertrauensvolle Vermittlung von möglichen Partnerschaftsmodellen, Treuevorstellungen, Geschlechtsidentitäten etc. sehr wichtig - längst nicht nur im Biologie-Unterricht, wo oft anatomische Dinge im Vordergrund stehen. Altersgerechte und geschlechtersensible Aufklärung im besten Sinn würde dann nicht nur Schwulen-, Lesben- und Transfeindlichkeit abbauen, sondern auch entsprechende Jugendliche in ihrem Coming-Out-Prozess unterstützen, der häufig genug mit Aggressionen gegen sich selbst (Essstörungen bis hin zu Selbstmordgedanken und -versuchen) und Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen verbunden ist.
Dass eine politische Partei sich auf den populistischen Zug draufsetzt, den wir nicht nur aus den Boulevardmedien, Fußballstadien oder von dem neuen Berliner Bischoff Woelki kennen, der Homosexualität als «Verstoß gegen die Schöpfungsordnung» verurteilt hatte, sondern auch von anderen (meist rechten und rechtspopulistischen) Parteien, wundert mich nicht. Sie erinnern sich sicher an alle Bemühungen der CDU/CSU, die Gleichstellung von Eingetragenen Lebenspartnerschaften im Bundesrat zu verhindern, die gescheiterte Kampagne um die Ergänzung des Artikels 3 im Grundgesetz (Diskriminierungsverbot aufgrund der sexuellen Identität) im letzten Jahr und viele andere Gelegenheiten. Leider lässt sich offensichtlich mit Homophobie immer noch «punkten».
Sie haben vollkommen Recht, dass niemand auf diese billige Masche hereinfallen sollte. Eine benachteiligte Gruppe gegen andere benachteiligte Gruppen in Stellung zu bringen, hilft weder der Emanzipation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans-Menschen, noch hilft sie, Rassismus in unserer Gesellschaft abzubauen. Es sollte uns allen darum gehen, gegen alle Formen der Diskriminierung vorzugehen - ohne die eine für wichtiger als andere zu erklären. Wiederum aus meinen Arbeitszusammenhängen weiß ich zum Glück, dass viele türkische Vereine, Stadtteilmütter-Projekte für Migrantinnen, kurdische, arabische, bosnische, russischsprachige (…) Jugendinitiativen etc. sich in den Communities und in der Gesamtgesellschaft gegen Diskriminierung - auch gegen Homophobie - engagieren. Ich glaube nicht, um ehrlich zu sein, dass die BIG-Partei mit ihrer Kampagne großen Erfolg haben wird.
Morgen (18. August) jährt sich die Verabschiedung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, erst zum fünften Mal. In einigen Bereichen verbietet das AGG direkte und indirekte Diskriminierungen, auch wegen der sexuellen Orientierung. Leider ist unsere (staatliche) Antidiskriminierungskultur noch nicht besonders alt - und keinesfalls tief verwurzelt. Ich denke, dass wir als Land Berlin mit unserer «Initiative für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt» schon einiges erreicht haben. Berlins Spitzenposition im Vergleich zum Bund und anderen Ländern, was die Gleichstellung angeht, ist nicht zuletzt dem Engagement der LINKEN im Abgeordnetenhaus und im Senat zu verdanken. Wir haben uns für die nächste Legislaturperiode ein Landes-Antidiskriminierungsgesetz aufgegeben, um die bestehenden Lücken der Bundesgesetzgebung zu schließen. Ich denke, dass der Weg zu einer diskriminierungsarmen Gesellschaft noch lang sein wird. Und gleichzeitig weiß ich als jemand, der seit mehr als zwölf Jahren im Antidiskriminierungsbereich arbeitet, dass wir über eine sehr solide Grundlage und gute Netzwerke verfügen. Rückschritte wird es mit UNS nicht geben!