Frage an Kerstin Tack von Harald M. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Sehr geehrte Frau Tack,
ich lass in der TAZ, dass Sie sich kritisch zum Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes geäußert haben. Dabei ist mir aber nicht klar, wie Sie Armutsrisiko und Armutsgrenze unterscheiden. Allgemein gilt in Deutschland jemand als arm, wenn ihm weniger als 60% des mittleren bedarfsgerichteten Haushaltseinkommens zur Verfügung stehen. Das Medianeinkommen für Alleinstehende Betrag 1.666,00€, das für eine Familie mit zwei Kindern 3.498,00€, die Armutsquote lag 2016 bei 15,7%. Laut DIW-Wochenbericht 27.2017 ist die obere und untere Einkommensschicht angewachsen, gleichzeitig nahm die Zahl der Menschen mit einem Haushaltseinkommen rund um das Medianeinkommen ab. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen verstehe ich Ihre Differenzierung zwischen Armutsgrenze und Armutsrisiko nicht.
Mit freundlichen grüßen
H. M.
Sehr geehrter Herr M.,
vielen Dank für Ihre Anfrage nach der Unterscheidung von Armutsgrenze und Armutsrisikogrenze.
Grundsätzlich gilt nach EU-Standard folgende Einteilungsempfehlung: Personen, die vom Median des Netto-Äquivalenzeinkommens weniger als
• 70 Prozent zur Verfügung haben, gelten als armutsgefährdet in sozialen Risikosituationen („prekärer Wohlstand“),
• 60 Prozent zur Verfügung haben, gelten als armutsgefährdet,
• 50 Prozent zur Verfügung haben, gelten als relativ einkommensarm,
• 40 Prozent zur Verfügung haben, gelten als arm.
Die Definition von Armut, die dem Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes - und nicht nur diesem - zugrunde liegt (60% des mittleren Pro-Kopf-Haushaltsnettoäquivalenzeinkommens), ist daher aus vielerlei Gründen nicht ganz unproblematisch: Erstens macht es einen Unterschied, ob eine Person 60% oder 40% des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, der sich vor allem in Hinblick auf die unterschiedlichen Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe zeigt. Denn letztlich bedeutet Armut vor allem Ausgrenzung: So vertritt der Rat der Europäischen Gemeinschaft eine Auffassung von Armut, „nach der Personen, Familien und Gruppen als arm gelten, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist.“
Zweitens stellt allein das Unterschreiten der 60%-Grenze keinen hinreichenden Indikator für soziale Ausgrenzung dar, sondern gibt lediglich Hinweise auf mögliche Risiken und betroffenen Gruppen. Definiert man nun aber pauschal all diese Personen als arm, so gelten dann auch Personengruppen als armutsgefährdet, die faktisch nicht vom Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe bedroht sind (z.B. Studenten, die sich selbst wohl in den seltensten Fällen selbst als „armutsgefährdet“ definieren würden.) Zugleich geht ein Einkommen oberhalb der Grenze nicht automatisch mit der Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe einher, denn es gibt ebenso auch Fälle faktischer Armut, z.B. durch Zins- und Tilgungslast bei Verschuldung, hohe Mieten in Städten wie München oder Frankfurt, oder besondere Lebenshaltungskosten bei Krankheit oder Behinderung. Bei gruppenspezifischen Armutsindikatoren ist zudem Vorsicht geboten. Die Volkswirtin und Verteilungsforscherin Irene Becker nennt hierzu als Beispiel die eingeschränkte Vergleichbarkeit der Einkommen von selbstständig und unselbstständig Erwerbstätigen. Denn die Einkommenssituation werde bei Selbstständigen insofern überschätzt, als sie nicht in die Sozialversicherung einbezogen seien und ihre Altersvorsorge aus dem Nettoeinkommen finanzieren müssten.“ (WSI-Mitteilungen 2017, S. 105).
Zur Definition von Armut ist es also nicht nur notwendig, zwischen Armutsgefährdung und Armut zu unterscheiden, sondern auch zusätzliche Maßzahlen neben dem Einkommen einzubeziehen, etwa die Langzeitarbeitslosigkeit, die Quote der erheblichen materiellen Deprivation (also das Ausmaß der durch Armut erzwungenen Unterversorgung mit Alltagsgütern – zum Beispiel: Wohnen, Heizen, Ernährung, ein Auto oder auch eine Woche Urlaub im Jahr), Lohnungleichheit und Daten zur Reichtum und Vermögensungleichheit.
Mit freundlichen Grüßen
Kerstin Tack