Frage an Kerstin Andreae von Bernd G. bezüglich Kultur
Sehr geehrte Frau Andree,
bei dem Thema Beschneidung stellt sich mir die Frage "Wenn doch gültig ist, wieso darf dann mit dem Argument der Religionsausübung dagegen verstoßen werden?
Ist die körperliche Unversehrtheit ein geringeres, minderwertigeres Recht als die Religionsausübung? Und vor allem: diese "Religionsausübung" gibt doch nur dem Ausübenden Recht, zu tun was er will, aber doch nicht das Recht einem anderen Individuum Schmerzen zu zu fügen! (Oder?)
Wo ist denn die Grenze der Religionsfreiheit? Befürworten Sie denn auch die weibliche Genitalverstümmelung aus religiösen Gründen?
Ich sehe, dass bei dieser Thematik (mal wieder) die Pragmatik ("Wir wollen doch keinen Ärger mit den Juden und Moslems!") gesiegt hat und nicht die eindeutige Aussage des Grundgesetzes (Recht auf körperliche Unversehrtheit)! Bitte nehmen Sie Stellung!
Mit freundlichen Grüßen
Bernd Giering
Sehr geehrter Herr Giering,
die religiös begründete Beschneidung von Jungen ist ein klassischer Grundrechtskonflikt. Wir entscheiden uns nicht für das eine Grundrecht und gegen das andere, es gilt vielmehr, eine Abwägung vorzunehmen, die alle Grundrechtspositionen optimal berücksichtigt.
Eine Beschneidung ist, wie jede Operation oder Impfung, eine Körperverletzung. Durch rechtswirksame Einwilligung wird sie aber gerechtfertigt und ist damit eben nicht strafbar. In einem freiheitlichen Staat treffen die Eltern diese Entscheidung für das Wohl ihres Kindes und in den Grenzen der Rechtsordnung. Zum Kindeswohl gehört einerseits die Gesundheit und der Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Kindes, andererseits aber auch das Recht des Kindes, als gleichberechtigtes und vollwertiges Mitglied einer Religionsgemeinschaft aufzuwachsen.
Bei der Abwägung muss auch die Bedeutung des Eingriffs bewertet werden. Er ist irreversibel, aber doch vergleichsweise gering – eine gesundheitliche Schädigung ist nicht die Folge – und er wird auch aus anderen Gründen, zum Beispiel aus prophylaktischen und hygienischen Erwägungen, bei Kindern und Erwachsenen vorgenommen.
Und selbst wenn wir zu dem Ergebnis kämen, dass die Beschneidung strafbar wäre, würde der Effekt ja nicht sein, dass es keine Beschneidung von jüdischen und muslimischen Kindern mehr gibt, sondern der Effekt würde sein, dass sie nicht mehr medizinisch fachgerecht ausgeführt wird. Ich will nicht, dass jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland in der Illegalität stattfindet. Für mich gehören Judentum, Islam und Christentum gleichermaßen zu Deutschland. Und ich will nicht, dass ausgerechnet Deutschland das erste und einzige Land auf dieser Welt wird, wo die Beschneidung von Juden und Muslimen strafbar sein soll.
Es ist im Rahmen des Grundrechtsausgleichs mit zu bewerten, welchen Stellenwert die Beschneidung für die Religion hat. Für alle abrahamitischen Religionen ist es fundamental. Ein Verbot der Beschneidung würde faktisch bedeuten: Jüdisches Leben und islamisches Leben sind in Deutschland auf Dauer legal so nicht möglich.
Es geht also um eine Abwägung dieser Grundrechte und in dieser Abwägung komme ich zu dem Ergebnis, dass dies von den Eltern im Sinne des Kindeswohls entschieden werden muss.
Mit freundlichen Grüßen
Kerstin Andreae MdB