Frage an Kerstin Andreae von Ingrid W. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrte Frau Andreae,
die Hartz-IV-Leistungen für Erwachsene und Kinder müssen bis zum Jahresende neu ermittelt und festgesetzt werden. So hat es das Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 entschieden. Was gehört zu einem menschenwürdigen Existenzminimum? Welcher Geldbetrag ist mindestens notwendig, um in einem reichen Land wie der Bundesrepublik menschenwürdig leben zu können?
Es darf nicht sein, dass Beamte in den Ministerien im Verborgenen neue Hartz-IV-Leistungen festsetzen, die von den Abgeordneten nur abgenickt werden. Dafür steht für Millionen von Menschen zu viel auf dem Spiel! Welche Einflussmöglichkeiten haben Sie in dieser Angelegenheit konkret schon wahrgenommen? Besonders groß ist der Handlungsbedarf bei den Leistungen für Kinder. Denn die tatsächlich für ein Kind anfallenden Ausgaben wurden bisher gar nicht berücksichtigt. Eine gesunde, ausgewogene Ernährung muss möglich sein. Alle notwendigen Ausgaben für die Schule müssen abgedeckt werden. Dazu sind Einmalleistungen vorzusehen. Der besondere, wachstumsbedingte Mehrbedarf von Kindern und Jugendlichen bei Bekleidung und Schuhen muss ausreichend berücksichtigt werden. Allen Kindern muss es möglich sein, je nach Interesse und Neigung in einem Sport- oder einem sonstigen Verein mitzumachen oder ein Instrument zu erlernen. Die Kosten für ein Fahrrad und eine (Schüler)Monatskarte für den ÖPNV müssen abgedeckt sein. Die Leistung muss einen ausreichenden Geldbetrag für Freizeitaktivitäten beinhalten. Kinder und Jugendliche im Hartz-IV-Bezug dürfen nicht durch Gutscheine oder bereit gestellte Sachleistungen stigmatisiert werden.
Inwiefern haben Sie sich in Ihrer Fraktion und im Bundestag dafür eingesetzt, dass die vorstehenden Mindestanforderungen bei der Neubemessung der Hartz-IV-Leistungen für Kinder und Jugendliche berücksichtigt werden und was beabsichtigen Sie noch im Laufe dieses Jahres dafür zu tun?
Sehr geehrte Frau Wagner,
sozialpolitische Entscheidungen mit einer solchen Tragweite müssen in der Tat breit diskutiert werden. Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen im Deutschen Bundestag werden wir unsere Kritik an der sozialen Unausgewogenheit des Sparpakets der Bundesregierung zum Ausdruck bringen. Die Vorschläge der Bundesarbeitsministerin zur Neuregelung der Hartz-IV-Leistungen sind eine Enttäuschung. Offensichtliche Defizite und seit langem bekannte und kritisierte Mängel werden nicht beseitigt sondern verschärft.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil festgestellt, dass die derzeitigen Verfahren zur Ermittlung der Bedarfe sowie das Herleiten der Regelsätze überwiegend subjektiven Kriterien folgen und wenig transparent sind. Im Ergebnis ist das Verfahren überaus zweifelhaft, so dass nicht mehr von einer verfassungsgemäßen Ermittlung des Existenzminimums ausgegangen werden kann. Damit bestätigt sich die Kritik an der Höhe der Regelsatzleistungen für Kinder und Erwachsene. Sie sind gegenwärtig nicht bedarfsdeckend und nicht existenzsichernd. Ausgesprochen ungerechtfertigt ist es zudem, den Regelsatz für Kinder und Jugendliche pauschal vom Erwachsenenregelsatz abzuleiten. Die Bundesverfassungsrichter halten die Methoden des jetzigen Verfahrens der Regelsatzermittlung für unangemessen. Es sind erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der zugrunde gelegten Zahlen geäußert worden. In der schriftlichen Begründung des Urteils wird von Schätzungen „ins Blaue“ hinein und einer „freihändigen Setzung“ gesprochen. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband geht beispielsweise davon aus, dass die Regelsätze für Kinder und Jugendliche je nach Altersgruppe derzeit zwischen 280 Euro für kleine Kinder und 360 Euro für ältere Jugendliche liegen müssten. Für mich ist klar: Der Bedarf von Kindern muss eigenständig ermittelt, die Regelsätze müssen ebenfalls angehoben werden. Notwendig sind Regelsätze für Kinder und Jugendliche, die ihren tatsächlichen entwicklungsbedingten Bedarf decken. Langfristig wollen wir eine Kindergrundsicherung einführen, d.h. für alle Kinder soll, unabhängig von der Familienform, das Existenzminimum eigenständig gesichert werden.
Mit unserem Antrag „Bedarfsgerechte Regelsätze und ein zuverlässiges Hilfesystem für Kinder, Jugendliche und Erwachsene statt Experimenten“ (Bundestagsdrucksache 17/2921) fordern wir eine Neufestlegung der Regelsätze, die ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen ermöglicht. Zudem wollen wir überprüfen, in welchen Bereichen die allgemeine, bedürftigkeitsunabhängige Bereitstellung von Sachleistungen wie Schulbücher, Schulmittagessen und Zugänge zu Kultur eine chancen- und bedarfsgerechte Teilhabe von Kindern und Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben gewährleisten kann.
Wir brauchen einen Sozialstaat, in dem sich Gerechtigkeit mit Freiheit verbindet. Das erreichen wir durch eine grüne Sozialpolitik, die Selbstbestimmung, Teilhabe und eine verlässliche materielle Absicherung gleichermaßen anstrebt.
Mit freundlichen Grüßen
Kerstin Andreae MdB