Frage an Kerstin Andreae von Lutz C. bezüglich Wirtschaft
Jeder weiß, dass es in der Natur für jedes Wachstum eine optimale Obergrenze gibt - kein Baum wächst in den Himmel und kein Mensch über das 20. Lebensjahr hinaus.
Jeder weiß auch, dass man bei gleichbleibender Leistung und gleichbleibendem Einkommen nicht ärmer werden kann. Im Gegenteil: Auch ohne Wirtschaftswachstum kann jeder seinen Wohlstand durch weitere Anhäufungen langlebiger materieller und geistiger Güter steigern, bei Produktivitätssteigerungen sogar mit sinkender Arbeitszeit! Warum aber drohen uns Ökonomen Verluste an, wenn sich die Wirtschaftsleistung stabilisiert? Warum werden Politikern die Knie weich, wenn die Wachstumsraten gegen Null zu sinken drohen? Warum rufen Gewerkschaften und Unternehmerverbände unisono nach Wirtschaftswachstum und warum wagen selbst die Grünen kaum noch auf die damit verbundenen Umweltfolgen hin zu weisen? Was ist die Ursache dieses fragwürdigen Verhaltens?
Sehr geehrter Herr Chmelik,
Wir Grüne sind mit dem blinden Glauben an unbegrenztes Wachstum schon immer sehr kritisch umgegangen. Der Markt braucht soziale und ökologische Regeln, er ist kein Selbstzweck.
Aus einem steigenden Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird normalerweise herausgelesen, dass sich auch der gesellschaftliche Wohlstand vergrößern würde. Dabei werden die ökologischen Folgen aber genauso ausgeblendet wie die Frage, wie die Gewinne sich in der Gesellschaft verteilen. Nicht nur wir, auch führende Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz kritisieren, dass das BIP als Wohlstandsmesser unzureichend ist. Denn parallel zum Wirtschaftswachstum stiegen in der Vergangenheit auch immer Rohstoffverbrauch und CO2-Ausstoß, während bei ärmeren gesellschaftlichen Gruppen oft nur wenig vom gesamtgesellschaftlich gestiegenen Wohlstand ankam . So können wir angesichts des Klimawandels und der weltweit immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich nicht mehr weitermachen. Wenn unsere Wirtschaftsweise uns die Lebensgrundlagen entzieht, kann auch das höchste Wachstum keine Wohlstandssteigerung mehr bedeuten. Wir Grüne schlagen deswegen mit unserem Wahlprogramm einen neuen Grünen Gesellschaftsvertrag vor, um Ökonomie und Ökologie zu versöhnen und mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Dazu brauchen wir unter anderem klare Vorgaben für den Klimaschutz, einen funktionierenden Emissionshandel weltweit, eine ökologische Modernisierung unserer Industrien, faire Regeln für den Welthandel und mehr soziale Gerechtigkeit, zum Beispiel durch einen Mindestlohn, höhere Hartz IV-Regelsätze und gleiche Bildungschancen für alle Kinder. Für mich gehört dazu auch, dass wir die Folgekosten unserer Wirtschaftsweise in die Messung der Wirtschaftsleistung einbeziehen. Der Stern-Report hat ergeben, dass jeder Euro, den wir heute für den Klimaschutz ausgeben, das zwanzigfache an Kosten spart, die auf uns zukommen würden, wenn wir jetzt nichts gegen den Klimawandel unternehmen. Auch Investitionen in Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit erzeugen wirtschaftliches Wachstum, zum Beispiel im Bereich der Erneuerbaren Energien oder der Kinderbetreuung. Wachstum ist also nicht an sich schädlich, es kommt darauf an, was genau wächst. Dafür müssen wir politisch die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Und zwar jetzt, denn der Klimawandel wartet nicht auf das Ende der Finanzkrise.
mit freundlichen Grüßen
Kerstin Andreae