Frage an Kerstin Andreae von Dieter H. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Es gibt so viele Bürgerkriege auf der Welt. Warum sollen ausgerechnet in Afghanistan deutsche Soldaten weiterhin ihr Leben riskieren?
Sehr geehrter Herr Haury,
Sie haben Recht. Deutschland kann und darf nicht überall mit Truppen intervenieren. Der Umkehrschluss kann aus meiner Sicht aber nicht lauten, dass man deshalb wegschaut und gar nichts tut. Man muss Prioritäten setzen. Dafür braucht man einen politischen Orientierungsrahmen. Wir Grünen haben lange und intensiv darüber gestritten, ob und unter welchen Umständen ein Einsatz von Streitkräften zulässig ist. Als einzige Partei haben wir friedens- und sicherheitspolitischen Leitlinien verabschiedet. ( http://www.gruene-partei.de/cms/files/dokbin/247/247629.frisikoabschlussbericht.pdf ). Für uns ist klar: Militärische Intervention muss die Ausnahme sein. Krisenprävention und zivile Friedenssicherung müssen Vorrang haben. Die internationale Staatengemeinschaft hat Afghanistan jahrzehntelang sträflich vernachlässigt und eklatante Fehler begangen. Als Grüne haben wir das in den 80er und 90er Jahren immer wieder thematisiert. Die USA und Pakistan haben aktiv zum Erstarken der Taliban beigetragen. Unter deren Herrschaft wurden nicht nur die Menschenrechte aufs Gröbste verletzt. Das Land wurde ab Mitte der 90er Jahre zum strategischen Stützpunkt für das international agierende Terrornetzwerk der Al Kaida. Unter dem Eindruck der verheerenden Terroranschläge vom 11. September 2001 wurde von den USA der Entschluss gefasst, Truppen nach Afghanistan zu schicken , um die Verantwortlichen und deren Hintermänner zur Rechenschaft zu ziehen und das Taliban-Regime zu stürzen. Die NATO hatte am 12.11.2001 den Bündnisfall ausgerufen. Von Anfang an gab es Skepsis in grünen Reihen angesichts der militärischen Mittel, allerdings bestand Einigkeit, dass nach den Anschlägen vom 11. Septe mber ein Selbstverteidigungsrecht der USA gegeben war. Für die Anti-Terror-Operation Enduring Freedom in Afghanistan hat Deutschland lediglich 100 Soldaten des Kommando Spezialkräfte bereit gestellt, die so gut wie nicht zum Einsatz kamen. Deutschland drängte darauf, den Menschen in Afghanistan nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges eine zivile und friedliche Perspektive zu ermöglichen. Die Vereinten Nationen und viele andere Organisationen haben diesen Ansatz unterstützt. Die von den Vereinten Nationen mandatierte International Security and Assistance Force (ISAF) ist keine Besatzungstruppe. Sie hat den Auftrag die afghanischen Autoritäten Sicherheitsunterstützung beim Aufbau zu geben. 65.000 Soldaten aus 42 Nationen sind an diesem Einsatz beteiligt. Deutschland beteiligt sich gegenwärtig mit bis zu 4.500 Soldaten an dieser ISAF-Mission. Ich habe den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der ISAF im Grundsatz stets befürwortet. Denn die Bundeswehr handelt dort im Auftrag der Vereinten Nationen mit dem Ziel, die Afghanen beim Staatsaufbau zu unterstützen. Es geht bei ISAF also nicht um die Beteiligung am "Krieg gegen den Terror", sondern um die militärische Sicherung des Wiederaufbaus. Aus meiner Sicht ist ein rein ziviles Vorgehen ohne militärische Unterstützung kaum möglich, weil die Sicherheitslage im Land nach wie vor sehr instabil ist und die bisherigen Fortschritte von verschiedenen Gruppen wie den Taliban massiv gefährdet werden.
Gleichzeitig habe ich immer betont, dass die Menschen in Afghanistan und damit der zivile Aufbau im Mittelpunkt stehen müssen. Wir Grüne haben immer wieder kritisiert, dass der Grundsatz ?Zivil vor Militär? nur unzureichend umgesetzt wurde. Wir haben immer für ein zurückhaltendes militärisches Vorgehen plädiert, das dem Schutz der Zivilbevölkerung größte Priorität beimisst. Die neue US-Administration hat hier einen Kurswechsel angekündigt, der leider ausgerechnet von der bisher vergleichsweise besonnen agierenden Bundeswehr konterkariert wurde. Vor dem Hintergrund der jüngsten Bombardierung von zwei Tanklastzügen ist es dringend geboten, die Fakten offen und ehrlich auf den Tisch zu legen. Dazu gehört auch, dass Parlament und Öffentlichkeit in Deutschland endlich umfassend über das informiert werden, was vor Ort geschieht. Es ist auch an der Zeit, mit den Afghanen über Abzugsperspektiven und konkrete Pläne zu sprechen, wie auf der Zeitachse die Verantwortung für Sicherheit und Wiederaufbau vollständig in ihre Hände übergehen kann. Einen solchen Stufenplan mit konkreten überprüfbaren Zwischenschritten haben wir bereits seit einem Jahr gefordert.
Ich halte aber nichts davon, jetzt sofort einen Truppenabzug zu fordern. Denn wir haben mit der Beteiligung an dem Afghanistaneinsatz Verantwortung übernommen. Wir können und dürfen die Menschen in Afghanistan nicht durch einen überstürzten Abzug im Stich lassen. Der Aufbau selbsttragender Sicherheitsstrukturen, die einen militärischen Rückzug erlauben, braucht Zeit. Wir müssen vor allem viel mehr Energie und Aufmerksamkeit in den Aufbau der afghanischen Polizei investieren. Hier hat die Bundesregierung sträflich versagt.
Afghanistan befindet sich Scheideweg. Zu Zeiten der Taliban war der Scheideweg jedoch nicht einmal in Sichtweite. Wir müssen die zivilen Hilfen, die demokratischen Institutionen und den Aufbau eigener afghanischer Sicherheitskräfte weiter stärken. Man muss auch die friedensbereiten Kräfte der oppositionellen Gruppen einbinden. Probleme wie Korruption oder Drogenanbau müssen gelöst werden. Das wird nicht einfach. Das geht aber vor allem nicht ohne die militärische Sicherung dieser Vorhaben. Sonst riskieren wir, dass alle erreichten Fortschritte schnell wieder zunichte gemacht werden. Das kann weder im Interesse der Afghanen noch in unserem Interesse sein.
Mit freundlichen Grüßen
Kerstin Andreae