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Katrin Göring-Eckardt
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Matthias M. •

Frage an Katrin Göring-Eckardt von Matthias M. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrte Frau Göring-Eckardt

Im Rahmen meiner Semiarfacharbeit debattiere ich über das Sozialstaatsproblem. Meine Frage an Sie wäre nun, wie Sie die aktuelle Situation im Sozialstaats sehen. Inwiefern können Sie Guido Westerwelle´s These zur spätrömischen Dekadenz widerlegen und was sehen Sie im Sozialstaat noch als verbesserungswürdig an ?

Desweiteren würde mich interessieren, was Sie von dem u.a. auch von Thilo Sarrazin angesprochenen Workfare-Konzept halten.

Mit freundlichen Grüßen,
Matthias Möller

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Möller,

Ziel grüner Politik ist ein Sozialstaat, in dem sich Gerechtigkeit mit Freiheit verbindet. Ohne Gerechtigkeit gibt es keine echte Chance auf ein selbstbestimmtes Leben für jede und jeden. Deshalb kämpfen wir für mehr Verteilungs- und Chancengerechtigkeit und für eine Politik der Teilhabe, die sich gerade an diejenigen richtet, die in unserer Gesellschaft schnell vergessen werden: Benachteiligte Kinder und Jugendliche, Arbeitsuchende und Geringverdienerinnen und Geringverdiener, Menschen mit Behinderungen oder mit Pflegebedarf. Diese Teilhabe muss auch materiell ausreichend abgesichert sein. Dazu wollen wir den Sozialstaat erneuern, um ihn fit zu machen für die Bedingungen des 21. Jahrhunderts. Ohne Freiheit wird der Sozialstaat zur Versorgungs- oder Besserungsanstalt. Nichts zeugt davon mehr als die Unkultur des Sanktionierens, die die große Koalition und die schwarz-gelbe Regierung durch immer neue Verordnungen noch verschärft hat. Um die Menschen wieder zu selbstbestimmten Autoren ihrer eigenen Geschichte zu machen, wollen wir die sozialen Bürgerrechte stärken. Wir wollen keinen Sozialstaat, der die Menschen entmündigt, sondern einen, der Teilhabe und neue Chancen ermöglicht: Wir wollen einen ermöglichenden Sozialstaat. Wer also echte Teilhabe ermöglichen will, der muss investieren in einen befähigenden Sozialstaat, der mehr tun muss für bessere Schulen, eine qualitativ hochwertige flächendeckende Kinderbetreuung, öffentlich geförderte Beschäftigung, moderne Krankenhäuser oder individuelle Wohn- und Pflegeangebote

Beispiele für konkrete Reformprojekte sind unsere Vorschläge für eine Bürgerversicherung und der Reform des ALG II:
Wir halten die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) für ein in ihren Grundprinzipien bewährtes System. Das Solidaritätsprinzip gewährleistet den Zugang zur medizinisch notwendigen Gesundheitsversorgung auch für Geringverdienende und in Phasen der Arbeitslosigkeit, der Pflege Angehöriger oder der Kindererziehung. Trotz dieser großen Stärken weisen die GKV und das Krankenversicherungssystem auch erhebliche Defizite auf, deswegen setzen wir uns für die Bürgerversicherung ein. Denn an der Finanzierung des Solidarausgleichs sind ausgerechnet die zehn Prozent der Bevölkerung nicht beteiligt, die im Durchschnitt am einkommensstärksten und auch am gesündesten sind. Viele gut verdienende Angestellte, die meisten Selbstständigen, Abgeordnete sowie Beamtinnen und Beamte sind in der privaten Krankenversicherung (PKV) versichert beziehungsweise werden über die Beihilfe und damit die öffentlichen Haushalte abgesichert. Die GKV muss so ohne die Stärksten auskommen. Der Solidarausgleich findet nur zwischen Durchschnitts- und Geringverdienenden statt. Beiträge werden fast ausschließlich auf Löhne, Gehälter und Renten erhoben. Kapital- und Mieteinkommen sowie Gewinne bleiben meistens beitragsfrei. Das ist ungerecht, weil damit die Beitragsbelastung eines Krankenversicherten nicht von der Höhe seines Einkommens, sondern von seinen Einkommensquellen abhängig ist. Wir wollen eine Bürgerversicherung für alle.
Weiterhin sind wir der Auffassung, dass das Sozialgesetzbuch II, in dem das Arbeitslosengeld II geregelt ist und das umgangssprachlich oft als Hartz IV bezeichnet wird, insgesamt reformbedürftig ist und überarbeitet werden muss. Wir haben hierfür das Konzept der Grünen Grundsicherung entwickelt. Die Grüne Grundsicherung umfasst Teilhabegarantien und Existenzsicherung. Sie besteht gleichberechtigt aus materieller Absicherung und dem Zugang zu fördernden und befähigenden Institutionen und Instrumenten. Beides muss klar festgelegt sein, auf beides muss es einen verbindlichen Rechtsanspruch geben. Ein Element der Grünen Grundsicherung ist die Festsetzung der Regelleistung in einer Höhe, die das sozio-kulturelle Existenzminimum garantiert und die Autonomie derjenigen schützt, die auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit der aktuellen Entscheidung zu den Hartz-Regelsätzen der Politik einen Auftrag erteilt, an dem wir schon lange und differenziert arbeiten: soziale Gerechtigkeit schaffen. Die Berechnung der Arbeitslosengeld II-Regelsätze basiert laut Karlsruhe auf willkürlichen und intransparenten Methoden, gerade die für Kinder, die bisher als "kleine Erwachsende" berechnet werden. Zugleich hat das Gericht deutlich gemacht, dass der Regelsatz das sozio-kulturelle Existenzminimum als eine Frage der Menschenwürde garantieren muss.
Angesichts fallender Umfragewerte der FDP hat Vizekanzler Guido Westerwelle dieses Urteil aufgegriffen, um mit schriller Stimme ALG-II-EmpfängerInnen "spätrömische Dekadenz" zu unterstellen. Die Tatsache, dass oft genug Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland so wenig verdienen, dass sie von ihrer Hände Arbeit nicht leben können, spielt er aus gegen jene Menschen, die gar keine Arbeit haben und ausschließlich von staatlichen Leistungen leben.
Später versucht die FDP dann, einen moderateren Auftritt vorzuführen, als sei es ihr zunächst nur um das Aufbrechen angeblicher Tabus gegangen. In der Sache bleibt es jedoch dabei: Plattitüden, Banalitäten und Unwahrheiten werden in der sozialpolitischen Auseinandersetzung zu Botschaften mit politischer Substanz stilisiert, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Schlimmer noch: Die Politik der schwarz-gelben Koalition verhindert genau das, was nötig wäre, um einigen Missständen Abhilfe zu leisten. Bündnis 90/Die Grünen haben mit dem Wahlprogramm ein umfassendes Konzept vorgelegt und die entsprechenden Instrumente für mehr soziale Gerechtigkeit benannt. Neben der Grünen Grundsicherung sind wichtige Bausteine der sozialer Gerechtigkeit ein Mindestlohn, das Progressivmodell zur Unterstützung von Geringverdienern, die Erhöhung des ALG II auf 420 Euro, der Bildungssoli und der Ausbau kommunaler Infrastruktur. Die VertreterInnen des Workfarekonzeptes schlagen einen Kombilohn oder ein liberales Bürgergeld, um Geringverdiener zu entlasten und neue Jobs zu schaffen.
Beide Modelle setzen auf Lohndumping, um Beschäftigung zu schaffen. Und sie zwingen die Beschäftigten dazu, neben ihrem Lohn staatliche Hilfen zu beantragen. Sowohl die Union, die Kombilöhne befürwortet, als auch die FDP, die das liberale Bürgergeld vorschlägt, lehnen Mindestlöhne und eine Anhebung des Arbeitslosengelds II auf ein existenzsicherndes Niveau ab. Beide sprechen sich mit ihren Modellen für eine flächendeckende Kombination aus niedrigen Löhnen und ergänzenden staatlichen Grundsicherungsleistungen (ALG II) nach dem Workfare-Prinzip aus. Die Kombination aus fehlendem Mindestlohn und staatlichen Lohnzuschüssen in Form von ALG II/Bürgergeld bedeutet aber, dass es für Lohndumping keine Haltelinien nach unten gibt.
Arbeitgeber können ihre Lohnkosten senken, ohne einen Mindestlohn beachten zu müssen. Sie schicken ihre Beschäftigten aufs Amt, um die mickrigen Löhne aufs Existenzminimum anheben zu lassen. Das Ergebnis sind ein unfairer Wettbewerb, fallende Löhne, bürokratische Anträge und Ämtergänge für die Beschäftigten und erhebliche Mehrkosten für die öffentliche Hand, die Lohndumping und den Unterbietungswettbewerb der Unternehmen flächendeckend subventionieren muss. Dagegen stellen wir das Progressiv-Modell und die grüne Forderung nach einem Mindestlohn. Die Beschäftigten sind unabhängig von staatlichen Lohnzuschüssen, die Subventionierung ist begrenzt auf die anteiligen Sozialversicherungsbeiträge, Lohndumping wird ein Riegel vorgeschoben.
Der platte Workfare-Ansatz in der alltäglichen Umsetzung des SGB II, gewinnt in der Verwaltungspraxis immer mehr die Oberhand. Unter Androhung von Leistungsentzug wird eine Gegenleistung für die staatliche Existenzsicherung verlangt, und zwar egal welcher Art. Dabei geht es faktisch nicht um die Integration in den Arbeitsmarkt, sondern um eine formalistische Zuweisung auch in sinnlose Maßnahmen. Das folgt nicht mehr der Intention Menschen auf dem Weg zurück in den Arbeitsmarkt zu unterstützen, sondern damit wird vielmehr versucht, sie dazu zu bewegen, sich aus dem Leistungsbezug abzumelden. Die langfristigen Folgen werden dabei ausgeblendet: Abtauchen in die Illegalität bei den Jugendlichen, prekäre und gering bezahlte Jobs für Menschen ohne Ausbildung, völliger Rückzug vom Arbeitsmarkt für Frauen und Älteren.
Zwar hatte das SGB II von Anfang an dieses Problem, der ungenügenden Förderung. Aber statt aus Erfahrungen zu lernen und unsoziale Regelungen zu korrigieren, hat die große Koalition und die schwarz-gelbe Regierung dem Integrationsansatz schließlich den Rest gegeben: Sie hat Sanktionen verschärft und die Eingliederungsvereinbarung in einen obrigkeitsstaatlichen Verwaltungsakt verwandelt. Das ist aber der völlig falsche Weg.
Arbeitsmarktpolitik muss Spielräume eröffnen und sie so gestalten, dass Menschen sich nicht von ihr bedroht fühlen, sondern selbst Handelnde sind. Das heißt z.B., dass die eigenen Vorstellungen und Ideen des Arbeitssuchenden Priorität haben müssen. Es muss Schluss sein mit der Misstrauenskultur, die sich sowohl gegen die Arbeitssuchenden und die Arbeitslosen richtet, aber auch gegen die Akteure vor Ort.
Deutschland braucht einen grundlegenden Perspektivwechsel, wenn verhindert werden soll, dass die zunehmende Ausdifferenzierung des Arbeitsmarktes einher geht mit einer immer tieferen Spaltung und Entsolidarisierung der Gesellschaft. Dieser Prozess ist bereits sehr weit fortgeschritten, und wir befürchten, dass sich das noch verstärkt. Gegen diese Entwicklung wollen wir Grünen die Frage nach Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt neu stellen und beantworten.

Mit freundlichen Grüßen,

Katrin Göring-Eckardt

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