Portrait von Katja Kipping
Katja Kipping
DIE LINKE
Zum Profil
Frage stellen
Die Frage-Funktion ist deaktiviert, weil Katja Kipping zur Zeit keine aktive Kandidatur hat.
Frage von Annette S. •

Frage an Katja Kipping von Annette S. bezüglich Politisches Leben, Parteien

Guten Tag Frau Kipping,

ich habe eine Frage zur Demokratie und den Wahlen. Der gelebte Parlamentarismus ergibt sich ja aus der Entsendung von Abgeordneten aus Wahlkreisen in die Parlamente, d.h. die Abgeordneten unterliegen ihrerseits einer Kontrolle durch ihren Wahlkreis. Vertritt ein Abgeordneter seinen Wahlkreis schlecht, dann kann er bei kommenden Wahlen abgewählt werden.
Parteien entsenden aber auch Abgeordnete über ihre Landeslisten in die Parlamente und diese Abgeordnete sind eigentlich nicht demokratisch legitimiert - will heißen: Sie werden nach Gutdünken der Parteien entsendet.
Wäre die LINKE dafür eine Initiative zu ergreifen, um diese undemokratische Vorgehensweise und vielleicht darf man auch sagen "Postenschachereien" der Parteien zu unterbinden, um dafür zu sorgen dass nur noch Abgeordnete im Bundestag sitzen, die von Wählern direkt gewählt wurden?

Portrait von Katja Kipping
Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrte Frau Seliger,

vielen Dank für Ihre Frage und Ihre Gedanken. Ich finde es toll, dass Sie sich mit dieser grundlegenden Frage für die Demokratie beschäftigen.

Nichts ist schlimmer als Politikerinnen, die Bürgerinnen und Bürgern nach dem Mund reden, deshalb will ich gleich bekennen, dass ich die Dinge anders als Sie sehe. Ich will das auch begründen. Unser politisches System hat durchaus Defizite, dazu später. Das sogenannte personalisierte Verhältniswahlrecht, also die Kombination aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht, zähle ich nicht dazu. Ich teile auch nicht Ihre Auffassung, dass die nicht direkt gewählten Abgeordneten keine demokratische Legitimation hätten. Jeder Abgeordnete ist frei und demokratisch gewählt, jede Stimme gleich viel wert. Auch die Auswahl von Direktkandidatinnen erfolgt wie die Auswahl von Listenkandidatinnen durch Wahlversammlungen, insofern ist der Legitimationsgrad bei der Kandidatinnenauswahl der gleiche.

Wir haben aber durchaus ein Problem, dass nämlich viele Interessen im Parlament unzureichend vertreten sind. Das sind die Interessen von armen Menschen sowie solchen mit niedrigen und mittleren Einkommen. Das sind Interessen von Menschen, die nicht über große Vermögen verfügen. Das sind die Interessen von Soloselbstständigen und Handwerkerinnen.

Ein reines Mehrheitswahlrecht wie Sie es beschreiben, hätte zur Folge, dass diese Interessen im Parlament noch weniger vertreten sein würden. Denn im Mehrheitswahlrecht gilt das "Winner-takes-it-all"-Prinzip. Die Kandidatin mit den meisten Stimmen, bekommt das Mandat. Die Interessen der Mehrheit, die andere Kandidatinnen gewählt haben, ist damit gar nicht mehr im Parlament vertreten.

Mehrheitswahlsysteme haben somit konzentrierende Wirkung, das heißt sie begünstigen große Parteien im Allgemeinen und Regierungsparteien im Besonderen. Sie führen dazu, dass Positionen, (und ihre Vertreterinnen) die (noch) keine Mehrheit haben, nicht repräsentiert werden. Denn die großen Parteien haben Ressourcen, Spenden und Lobbyistinnenunterstützung auf die kleinere Parteien wie z.B. auch meine eigene nicht zugreifen können (und wollen).

Was würde ein reines Mehrheitswahlrecht bedeuten? Würde man nur die Erststimmen gelten lassen, hätte die CDU/CSU derzeit 77 Prozent der Sitze. Ich vermute, dass selbst die meisten CDU/CSU-Wählerinnen es für keine gute Idee halten würden, eine solche konservative Übermacht mit sogar verfassungsändernder Mehrheit im Parlament zu haben. Wer sollte den Maskenskandal, die Wirecard-Affäre oder die Mautpleite der konservativen Spitzenpolitiker aufklären, wenn nicht wie jetzt eine Opposition? Diese könnte noch nicht mal gemeinsam einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Wer sollte die Regierung kontrollieren? Wer kritische Anfragen stellen? Sicher nicht die Abgeordneten der Regierungsfraktion, die auch in Zukunft wieder als Direktkandidat aufgestellt werden wollen.

Deswegen denke ich, dass es keine gute Idee ist, an dieser Stelle das Wahlrecht zu ändern. Eine Demokratisierung wie ich sie einfordere beinhaltet andere Maßnahmen: Volksentscheide auf Bundesebene, bessere Transparenz- und Informationsfreiheitsgesetze sowie ein Lobbyismusregister.

Herzliche Grüße

Katja Kipping