Frage an Katja Kipping von Julius F. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrte Frau Kipping,
Nachdem sehr viel über die wirtschaftlichen Vor- und Nachteile des BGE gesprochen wurde, möchte ich meine zwei nicht-monetären Bedenken zum Ausdruck bringen:
1. Es gibt heutzutage keine Sozialisierungsstrukturen außerhalb der konventionellen Arbeitszeiten. Auf dem Land sind zwischen 9 und 17 Uhr nur (wenige) Hausfrauen mit Kleinkindern und Rentner unterwegs. Keine Veranstaltungen, Stammtische, Debattierklubs, sonstige Aktivitäten, die das Gespräch untereinander ermöglichen würden. In den Städten kommt noch das Publikum der gestreßten Berufstätige hinzu, die von Termin zu Termin hetzen. Da kann man zwar ins Kino gehen, ist aber eine einsame Angelegenheit. Ansonsten auch in der City gibt es nur Kneipen. Wenn es eines Tages viele BGEler gibt, die sich mit dem Grundbetrag zufrieden geben, was sollen sie den ganzen Tag mit ihrer wiedergewonnenen Freiheit anfangen? Haben sich die Verfechter des BGE auch über die sozialen Strukturen bei einer solchen epochalen Umstellung Gedanken gemacht? Wenn die BGEler kreativ sein sollen, wie kann sich die Kreativität entfalten und wie können die Produkte dieser Kreativität unter die Bevölkerung gebracht werden?
2. Schon heute ist es nicht einfach, Menschen zu finden, die unangenehmen Tätigkeiten nachgehen: Die meisten Reinigungskräfte, Klempner, Bauleute, Boten, Lagerarbeiter, Möbelträger... tun es aus blanker Not. Man sagt, Pfleger seien Idealisten, ich bezweifle es aber.
Wenn kein Mensch mehr auf Erwerbsarbeit angewiesen ist, wer wird die oben genannten Tätigkeiten, die nicht mit Computern zu bewerkstelligen sind, verrichten?
Vielen Dank für Ihre freundliche Antwort und solidarische und moderne Grüße!
Julius Franzot
Sehr geehrter Herr Franzot,
Ihrer etwas drastischen Beschreibung fehlender Möglichkeiten sich sinnvoll und kreativ jenseits von Erwerbsarbeit einzubringen, kann ich nicht folgen.
Die Anzahl der bürgerschaftlich Engagierten steigt schon jetzt - mit mehr oder weniger ausreichenden Infrastrukturen. Gerade diese müssen und sollen natürlich ausgebaut werden - mit Erwerbsarbeit und auch ohne. Viel darüber hat André Gorz in seinem Buch "Arbeit zwischen Misere und Utopie" geschrieben. Dazu können Sie auch einiges nachlesen im jüngsten Buch "Grundeinkommen. Geschichte - Modelle - Debatten" (Dietz-Verlag, 2010), auch unter http://www.grundeinkommen.de/25/04/2010/ein-neues-buch-zum-grundeinkommen-geschichte-modelle-debatten.html .
Gerade das Grundeinkommen ermöglicht nun mehr frei verfügbare Zeit für viele in Erwerbsarbeit übermäßig beanspruchte Menschen. Der Bedarf an Verkürzung an Erwerbsarbeitszeit bei Vollzeitbeschäftigten ist riesig groß, wie Studien belegen.
Die zweite Frage ist eine klassische: Wer erledigt bei einem Grundeinkommen, sagen wir in 1.000 Euro Höhe, noch die anstrengenden, mglw. gesundheitsschädigenden und unangenehmen Arbeiten? Sehen wir mal davon ab, dass es heute sogar Menschen gibt, die viel Geld dafür ausgeben, sich im Urlaub anstrengenden, mglw. gesundheitsschädigen und unangenehmen Tätigkeiten sogar gegen Zahlung eines Geldes hinzugeben (denken Sie an die vielen Survival- und Abenteuer-Freizeitaktivitäten), gibt es mindestens drei Antworten auf diese Frage: Die erste lautet Automatisierung (siehe z. B. automatische Mülltrennung, Möbel und Lagermaterialien, die mit Maschinen gehoben und bewegt werden). Die zweite lautet, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, auch mit genannter Automatisierung - gerade in denen von ihn genannten Tätigkeitsbereichen, aber auch wechselnde Tätigkeiten, kürzeren Arbeitszeiten usw. usf. Drittens schauen Sie sich die von Ihnen genannten Tätigkeiten mal an - wie viel von Ihnen könnte man bei einer sorgsamen, entstressten Gesellschaft minimieren - mit radikal weniger Dreck- und Müllverursachung oder mit weniger Zwang, ständig irgendwelchen Jobs hinterher zu ziehen oder Büros zu eröffnen und wieder zu schließen und wieder zu eröffnen usw. usf. - und dabei ständig Möbel bewegen zu müssen.
Und zu guter Letzt: Tätigkeiten mit und für Menschen sollten natürlich nicht oder nur in geringem Maße automatisiert werden (ein Rollstuhl z. B. ist eine solche, schon lange gebräuchliche Möglichkeit). Diese Mensch-zu-Mensch Dienstleistungstätigkeiten (Bildung, Pflege, Erziehung, Gesundheitsversorgung usw.) sind nach wie vor zu erledigen - in der Form der Erwerbsarbeit und in anderen, wie jetzt schon stattfindenden Formen wie bürgerschaftliches Engagement, Familien-, Haus- und Sorgearbeit. Nur werden diese mit einem Grundeinkommen entstresster und materiell abgesicherter möglich. Und natürlich müssen sie mehr auf männliche Schultern verteilt werden!
Ich bin mir sicher, Herr Franzot, dass, wenn Sie ein Grundeinkommen bekämen, Ihre Leben in selbstbestimmter Balance zwischen den verschiedenen genannten Tätigkeitsformen kreativ und sinnvoll gestalten würden. Übrigens ein Motto des jetzigen Entwurfs des Parteiprogramms der LINKEN. Mehr Freiheit für die Menschen, um mehr Solidarität miteinander zu ermöglichen. Nun müssen wir nur noch dafür streiten, dass ein dafür wichtiges Mittel im Programm der LINKEN beschrieben wird - das Grundeinkommen. Streiten Sie dafür mit - in der Partei DIE LINKE und in der Gesellschaft?
Mit freundlichen Grüßen
Katja Kipping