Frage an Katja Dörner von Haik P. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrte Frau Dörner,
die vielfältigen Erinnerungen an den Völkermord in Ruanda, die wir dieser Tage in allen Medien und in der politischen Öffentlichkeit erfahren, bringt mich auf die Frage: Werden Sie sich für eine Gedenkfeier im Deutschen Bundestag zum 24. April 2015, dem 100. Jahrestag des türkischen Völkermords an den Armeniern, einsetzen? Halten Sie es für erforderlich, die deutsche Verantwortung in dieser Frage neu zu bestimmen? Und halten Sie es für notwendig, aus dieser besonderen deutschen Verantwortung heraus endlich eine förmliche Anerkennung des Genozids von 1915 auszusprechen und die Politik des Leugnens und des diplomatischen Versteckspiels zu beenden?
Hochachtungsvoll
Haik Petrossian
Diplom-Psychologe
Sehr geehrter Herr Petrossian,
vielen Dank für Ihre Frage.
Schon im Vorfeld der Verabschiedung des interfraktionellen Antrages "Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den
Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen" (Drucksache 15/5689) im Juni 2005 durch den Deutschen Bundestag und bei zahlreichen anderen Gelegenheiten haben wir sehr deutlich gemacht, dass Bündnis 90/Die Grünen davon ausgeht, dass es sich bei den Geschehnissen von 1915 um einen Genozid/Völkermord handelt. Wir sind allerdings nicht davon überzeugt, dass ein neuer und expliziter Völkermordanerkennungsbeschluss des Deutschen Bundestags die Aufarbeitung der düstersten Kapitel der türkischen Geschichte vorantreiben würde. Nicht das deutsche Parlament, sondern die türkische Nationalversammlung muss sich mit dem Thema befassen und die Geschehnisse von 1915 als das qualifizieren, was sie waren: ein Völkermord. In der Debatte um die Aufarbeitung der türkischen Geschichte geht es uns nicht einfach um ein Schuldeingeständnis der türkischen Seite, sondern darum, mit Tabus und Tabuisierungen in der Türkei, in der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung und im türkischen Bildungssystem endlich zu brechen. Es muss möglich sein, offen über all diese Themen in der Türkei sprechen zu können, ohne sofort die Justiz am Hals zu haben. Bezüglich dieser Positionen war der von türkischen Ultranationalisten ermordete armenische Journalist und Schriftsteller Hrant Dink ein enger Freund und Ratgeber von uns. Sein Anliegen, das nun sein Vermächtnis geworden ist, war es, alles zu tun, damit die Diskussion um dieses Thema und die Aufarbeitung der türkischen Geschichte zu einer innertürkischen Angelegenheit wird. Als außenpolitische Akteure bleiben wir in unserer Türkei-Politik diesem Motto von Hrant Dink treu. Wir halten es nicht für zielführend, diese Debatte und das Thema Völkermord zu instrumentalisieren, um andere politische Ziele zu erreichen, wie zum Beispiel die Türkei aus der EU herauszuhalten. Das Schüren von anti-türkischen oder gar antimuslimischen Ressentiments in Europa ist falsch und gefährlich, genau so wie der Versuch, die Türkei bzw. Menschen aus der Türkei rassistisch zu diskriminieren. Parlamentarische Initiativen und Resolutionen, die nur einen Verurteilungsansatz in den Vordergrund stellen und die Debatten mit strafrechtlichen Maßnahmen einengen wollen, sind auf ihre politische Wirkung hin zu hinterfragen. Uns liegt es daran, alles zu tun, um eine breite demokratische Debatten- und Diskussionskultur in der Türkei zu etablieren und dadurch auch einen glaubwürdigen Beitrag zur Versöhnung und Frieden in der Region leisten zu können. Ein Jahr vor dem 100. Jahrestag des Genozids im April 2015 lassen uns die laufenden Debatten in der türkischen Zivilgesellschaft und die damit verbundenen Entwicklungen in der Türkei hoffen, dass die Zeit der Tabuisierung in der Türkei allmählich zu Ende geht.
Mit freundlichen Grüßen
Katja Dörner