Frage an Karl A. Lamers von Stefan R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Dr. Lamers,
immer wenn ich das Bundestagsgebaeude sehe, bekommt mich ein beklemmendes Gefuehl. Dort steht in grossen Lettern: "Dem Deutschen Volk". Ich vermute das stammt noch aus der Kaiserzeit, als der Reichtag vom Kaiser "dem deutschen Volk" sozusagen als Gefaelligkeit "ueberlassen" wurde.
Kann man die Inschrift nicht aendern in "Vom Deutschen Volk", um den Abgeordneten immer vor Augen zu halten fuer wen Sie arbeiten?
Mit freundlichen Gruessen,
Stefan Richter
Sehr geehrter Herr Richter,
für Ihre Fragen und Anmerkungen zu der Inschrift „Dem deutschen Volke“, die über dem Eingang des Reichstagsgebäudes prangt, danke ich Ihnen sehr herzlich.
Ich freue mich stets, wenn ein offener und konstruktiver Dialog über die Demokratie geführt wird und gehe daher gerne auf Ihren Vorschlag, die Inschrift in „Vom deutschen Volke“ abzuändern, ein.
Wie Sie richtig vermutet haben, wurde die Inschrift „Dem deutschen Volke“ tatsächlich zu Zeiten Kaiser Wilhelms II. angebracht, genaugenommen im Jahre 1916. Die Idee dazu entstand jedoch bereits während des Reichstagsbaus in den Jahren 1884 bis 1894. Der Baumeister Paul Wallot hatte vorgeschlagen, das neue Reichstagsgebäude „Dem deutschen Volke“ zu widmen und eine entsprechende Inschrift über dem Westportal anzubringen. Die dafür vorgesehene Stelle blieb jedoch mehr als 20 Jahre lang leer. Es wird gemutmaßt, der Kaiser selbst habe seinen Einfluss geltend gemacht, um die Anbringung zu verhindern, da er den Reichstag lieber „Dem Deutschen Reiche“ gewidmet hätte.
Erst als sich durch das Ausbleiben der Erfolge im Ersten Weltkrieg zunehmend das Kräftegefüge im Reich änderte und das Volk begann, sich gegen den Kaiser zu stellen, erinnerte man sich wieder an die ursprünglich vorgesehene Inschrift. Um die kriegsmüde Bevölkerung mit dem Kaiser zu versöhnen, ließ man die Buchstaben aus französischen Kanonenkugeln, die bei dem Sieg über Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 erbeutet worden waren, gießen.
Obgleich die Inschrift damit als bewusstes Mittel zur Beeinflussung des Volkes benutzt wurde, stellte sie gleichzeitig ein erstes Zeichen einer zunehmenden Parlamentarisierung des Reiches dar. Die Stimme des Volkes sollte fortan mehr und mehr Gehör finden. 1917 mischte sich der Reichstag mit der Friedensresolution massiv in Bereiche ein, die ihm gemäß Verfassung eigentlich verwehrt waren. Im Oktober 1918 erfolgte eine tiefgreifende Reform, wonach nun auch der Kanzler das Vertrauen des Parlaments benötigte. Am 9. November 1918 schließlich rief Philipp Scheidemann von einem Balkon des Reichstages die Republik aus.
Die Inschrift „Dem deutschen Volke“ ist jedoch nicht nur vor diesem historischen Hintergrund als sichtbares Zeichen einer Herrschaft des Volkes zu betrachten, sondern unterstreicht gleichzeitig auch eine Verfassungsmaxime der Bundesrepublik Deutschland. In Artikel 38 des Grundgesetzes heißt es, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages Vertreter des ganzen Volkes sind, sie werden also nicht nur „vom deutschen Volke“ gewählt, sondern tragen durch die politischen Entscheidungen, die sie treffen, auch Verantwortung gegenüber „Dem deutschen Volke“.
Die über dem Westportal angebrachte Inschrift stellt daher meiner Meinung nach sowohl historisch als auch verfassungsrechtlich betrachtet die richtige Formulierung dar, um die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht nur daran zu erinnern, von wem sie gewählt wurden, sondern insbesondere daran, für wen sie arbeiten. Nämlich für das deutsche Volk.
Ich hoffe, dass diese Antwort für Sie hilfreich war und Sie bei Ihrem nächsten Aufenthalt in Berlin wieder Freude am Besuch des Reichstages haben.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Dr. Karl A. Lamers MdB