Frage an Karl A. Lamers von Stefan L. bezüglich Wirtschaft
Sehr geehrter Herr Dr. Lamers,
Mit Erschrecken habe ich die unterzeichnete Version des ESM-Vertrags vom 02. Februar 2012 gelesen. Wenn ich dieses Dokument richtig verstanden habe, dann wird damit eine Institution geschaffen,
- die von den Mitgliedstaaten jederzeit Geld verlangen kann, das dann augenblicklich eingezahlt werden muss (Art. 9 Abs. 3)
- die das genehmigte Stammkapital jederzeit ändern kann (Art. 10 Abs. 1) und somit aus den Mitgliedstaaten beliebe Geldmengen herauspressen darf
- die eine volle Rechtspersönlichkeit darstellt (Art. 32 Abs. 2) und somit jederzeit klagen kann
- die dabei selbst aber völlige Immunität besitzt (Art. 32 Abs. 3) und somit nicht verklagt werden darf
- deren Bedienstete Unverletzlichkeit besitzen (Art. 35 Abs. 1), sodass die Mitgliedsstaaten die Aktivitäten nicht einmal überwachen können.
Ich begreife nicht, warum es zur Unterstützung der südeuropäischen Staaten notwendig sein soll, eine Institution zu schaffen, die über dem Gesetz steht und tun und lassen kann, was sie will.
Möglicherweise können Sie mir erklären, warum dieser Vertrag in dieser Form seine Berechtigung hat; allerdings hoffe ich, dass Sie in der entsprechenden Abstimmung gegen dieses Dokument, das meiner Ansicht nach jegliche Rechtsgrundsätze mit Füßen tritt, stimmen werden.
Freundliche Grüße,
Stefan Lindner
Sehr geehrter Herr Lindner,
für Ihr Schreiben, in dem Sie Ihre Bedenken bezüglich des ESM-Vertrags zum Ausdruck bringen, möchte ich Ihnen danken.
Am 29. März wurden die Verträge zum europäischen Fiskalpakt und zur Einrichtung und Finanzierung des ständigen Euro-Rettungsschirm ESM im Deutschen Bundestag in erster Lesung beraten.
Auch ich habe sehr lange die Vor- und Nachteile der verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander abgewogen. Schließlich bin ich zu der Entscheidung gekommen, mich der Argumentation unserer Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel anzuschließen und für das Gesetzespaket zu stimmen. Alle anderen Alternativen sind nach Ansicht von Frau Dr. Merkel und Herrn Dr. Schäuble in der aktuellen Situation weniger erfolgversprechend als die jetzigen Pläne der Bundesregierung, angeschlagene Euro-Länder zu unterstützen und mit dem ESM einen dauerhaften Rettungsschirm zu installieren.
Ich möchte auch klar sagen: Mit der Euro-Rettung wird über Europas Zukunft entschieden. Einen einfachen Weg ohne Risiken gibt es nicht. Ein möglicher Flächenbrand muss unbedingt verhindert werden. Europa steht zusammen!
Wir müssen dafür sorgen, dass der Euro eine stabile Währung bleibt. Das liegt letztlich auch in unserem eigenen Interesse, profitiert Deutschland doch wie kein anderes Land von einer gemeinsamen Währung. Hierin sind wir uns sicher einig. Eine Währungsunion ist jedoch nicht zum Nulltarif zu haben. Sie kann nur funktionieren, wenn jedes Mitgliedsland aus eigener Kraft wettbewerbsfähig ist und solide wirtschaftet. Akut in Schwierigkeiten geratene Euro-Länder aber müssen kurzfristig von ihren Partnern unterstützt werden. Ein sonst möglicher Flächenbrand hätte unabsehbare Folgen für ganz Europa und damit auch für die deutsche Wirtschaft und unsere öffentlichen Haushalte. Bei allen jetzigen und zukünftigen Maßnahmen darf es sich aber nur um eine zielgerichtete Krisenhilfe handeln.
Zunächst können Bedenken, dass der ESM undemokratisch sei – insbesondere der Gouverneursrat – so nicht bestätigt werden. Im Gouverneursrat sind die Finanzminister der Mitgliedstaaten vertreten. Diese sind wohl nicht direkt gewählt – wie im übrigen auch nicht die deutsche Bundeskanzlerin oder der deutsche Bundespräsident –, die Finanzminister gehören jedoch unseren demokratisch gewählten Regierungen an und sind den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber verantwortlich.
Die Beteiligungsrechte des Bundestages werden zudem nun im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens genau ausgestaltet. Sicher ist schon jetzt: Der Bundestag wird allen Finanzhilfen für Euro-Staaten zustimmen müssen, beispielsweise auch einer Erhöhung des ESM-Kapitals. Nur bei Ankäufen von Staatsanleihen auf dem sog. Sekundärmarkt wird ein 9er-Gremium des Bundestages verantwortlich sein. Geheimhaltung ist hier von größter Wichtigkeit, da das Vorhaben sonst von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Diese Regelungen entsprechen dem letzten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Beteiligung des Bundestags im Rahmen der Euro-Krise. Der Bundestag ist also weder gewillt noch in der Lage, sein Haushaltsrecht als Königsrecht aus der Hand zu geben.
Weiter ist das Kapital des ESM ohne Beschluss des Gouverneursrats auf 700 Mrd. Euro gedeckelt, der deutsche Anteil auf 190 Mrd. Euro. Die Zustimmung des deutschen Vertreters im Gouverneursrat wird durch Gesetz an die Zustimmung des Bundestags gebunden werden, bei Kapitalerhöhungen muss sogar das Gesetz (ESM-Finanzierungsgesetz) geändert werden. In der Tat ist es nach Art. 25 ESM-Vertrag so, dass, wenn ein Land nicht einzahlt, der Anteil zunächst auf die übrigen Mitgliedstaaten umgelegt wird (damit die Solvenz des ESM immer sichergestellt ist, ansonsten würde es kein AAA-Rating geben). Das betreffende Land muss seine Schuld aber innerhalb einer „vertretbaren Zeit“ begleichen. In jedem Fall bleibt die individuelle Länderhaftung auf den Anteil am Stammkapital beschränkt. Auch die seit einiger Zeit durch die Medien geisternde Behauptung, der ESM könne durch Anpassungen der Nennwerte der Anteile sein Volumen ohne weitere Zustimmung der Parlamente ausweiten, ist falsch. Auch hier wäre ein Zustimmungsvorbehalt des Bundestags sichergestellt.
Bei den in Artikel 32 und 35 ESM-Vertrag vorgesehenen Immunitäten für den ESM, sein Vermögen sowie seine Amtsträger und Bediensteten handelt es sich um bei Internationalen Finanzinstitutionen übliche Regelungen. Die Tätigkeit des ESM beinhaltet äußerst komplexe rechtliche Vorgänge, welche regelmäßig mit erheblichen Risiken behaftet sind. Durch die Regelungen soll der ESM und sein Vermögen vor unberechtigtem Zugriff Dritter geschützt werden. Das ist im Interesse der ESM-Mitglieder und damit auch des deutschen Steuer¬zahlers. Die persönliche Immunität der Amtsträger und Bediensteten kann durch den Gouverneursrat des ESM, in dem die Finanzminister der Mitgliedstaaten der Eurozone vertreten sind, bzw. den Geschäftsführenden Direktor aufgehoben werden. Dadurch wird Missbrauch entgegengewirkt. Vergleichbare Regelungen gelten u. a. für den IWF, die Weltbank sowie regionale Entwicklungsbanken wie z. B. die Afrikanische Entwicklungsbank (AfDB) und die Asiatische Entwicklungsbank (ADB).
Insgesamt bin ich von der Notwendigkeit des ESM überzeugt und setze mich daher ausdrücklich für die Zustimmung zum ESM im Deutschen Bundestag ein.
Mit freundlichen Grüßen,
Karl A. Lamers