Ziehen Sie in den Bundestag ein wenn Sie in Ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen erhalten?
Sehr geehrte Frau Schultz, das ist der Punkt den ich nicht verstanden habe! Wenn Sie die meisten Stimmen in Ihrem Wahlkreis erhalten ziehen Sie dann als Direktkandidatin in den Bundestag ein? Oder eben nicht. Und was passiert dann?
Mit freundlichem Gruß
MM

Lieber Michael M.,
tut mir Leid, dass das bisher nicht so gut rüber gekommen ist. In der Praxis ist unter dem derzeitigen Zweistimmenwahlrecht seit 1953 noch nie ein parteiloser Kandidat in den Bundestag eingezogen, weil er die meisten Stimmen hatte. Und in Bremen hat bisher immer nur die SPD die meisten Erststimmen für das Direktmandat erhalten. Es ist also komplett unwahrscheinlich, dass ich die meisten Erststimmen bekomme und in den Bundestag einziehe.
In der Theorie würde ich allerdings garantiert in den Bundestag einziehen, wenn ich die meisten Erststimmen bekäme. Das unterscheidet mich nach dem neuen Bundestagswahlrecht als parteilose Kandidatin von den Direkt-Kandidaten der politischen Parteien. Die ziehen nämlich nur dann ein, wenn ihre politischen Parteien entsprechend viele Zweitstimmen erhalten. Wenn beispielsweise Volker Redder von der FDP die meisten Erststimmen in Bremen I bekäme, die FDP bundesweit aber unter 5% bliebe, dann erhielte er das Mandat nicht und der Wahlkreis Bremen I hätte keinen Direktkandidaten im Bundestag. Das nennt man „Zweitstimmendeckung“.
Und um das theoretische Gedankenspiel noch komplizierter zu machen: Wenn sich zu einem siegreichen Direktkandidaten Redder für die FDP noch zwei weitere siegreiche FDP-Direktkandidaten in anderen Bundestagswahlkreisen gesellten, dann würden er, seine zwei Kollegen und weitere ca. 30 FDP-Kandidaten von der Parteiliste in Fraktionsstärke in den Deutschen Bundestag einziehen. Das ist die so genannte „Grundmandatsklausel“, die von den Ampelkoalitionären eigentlich gestrichen worden war, aber vom Verfassungsgericht für so lange rückgängig gemacht wurde, bis das Parlament sich auf ein neues verfassungskonformes Wahlrecht einigt. Denn eigentlich wurde die Erststimme durch die Reform komplett entwertet. Durch die Zweitstimmendeckung werden jetzt die Parteiführungen noch mehr gestärkt und noch mehr treue Parteisoldaten in den Bundestag einziehen. Den Kandidaten kann der Kontakt zum Wähler jetzt ziemlich egal sein, da es nur noch auf einen möglichst guten Listenplatz auf der Parteiliste ankommt, der parteiintern vergeben wird.
Und genau gegen dieses Verhalten der Politik benötigen wir den bundesweiten Volksentscheid: Gegen Machthaber, die ihre Politik gegenüber den Bürgern kaum begründen müssen und in Befangenheits-Fragen wie jetzt beim Wahlgesetz stets ihren eigenen Vorteil suchen.