Hallo, Hr. Juratovic, wie stehen Sie zu Volksentscheiden ? Gruss Stefan Kasper
Sehr geehrter Herr K.,
vielen Dank für Ihre Frage und Ihr Interesse an meiner politischen Arbeit.
Ich stehe Volksentscheiden zwar nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, bin jedoch skeptisch, dass sie in der Realität ihr Versprechen erfüllen können, "mehr" oder "bessere" Demokratie zu schaffen.
Sicherlich gibt es Situation, in denen ein Volksentscheid hilfreich sein kann um politische Fragestellungen zu beantworten. Wollen wir in der Kommune ein bestimmtes Bauprojekt verwirklichen oder nicht? Hier kann ein Entscheid helfen, Klarheit über die Präferenzen der Menschen vor Ort zu schaffen. Gibt es Probleme oder Lösungsansätze, die in der örtlichen Politik unzureichend auf der Agenda stehen? Dann kann mit einem Entscheid Aufmerksamkeit generiert werden und eine klarere Positionierung der politischen Vertreter erwirkt werden. Elemente direkter Demokratie können so die repräsentative Demokratie ergänzen.
Kritisch sehe ich Volksentscheide dort, wo sie als Mittel für größere Grundsatzentscheidungen eingesetzt werden sollen. Brexit stellt das vermutlich eindrücklichste Beispiel dar. Eine höchst komplexe Entscheidung wurde hier populistisch heruntergebrochen auf ein simples "Remain" oder "Leave", ohne dass vor der Abstimmung irgendeine Klarheit darüber herrschte oder herrschen konnte, was das Kreuzchen des Wählenden denn genau bedeuten würde. Gleichzeitig stand in der Praxis auch nicht das Ziel im Mittelpunkt, einen wirklich aufgeklärten und informierten gemeinsamen demokratischen Willen zu formulieren - stattdessen wurde das Referendum benutzt um durch Populismus eine nie dagewesene gesellschaftliche Polarisierung zu befeuern, die die britische Demokratie noch lange schwer belasten wird (siehe die Konflikte in Irland und Schottland).
Auch wenn das Brexit-Referendum ein Extrembeispiel darstellen mag, ist es doch sehr beispielhaft für das Grundproblem von Volksentscheiden. Politik ist in einer Demokratie immer eine komplexe Abwägung von Interessen, Zielen und Möglichkeiten vieler verschiedener Akteur:innen. Ohne Frage kann dies oft anstrengend und auch frustrierend sein, aber der Weg zu einer Entscheidung ist dabei immer geprägt von Dialog miteinander, Verhandlungen und der Suche nach Kompromissen. Ein Volksentscheid kann das in der Realität kaum leisten. Denn hier geht es am Ende des Tages immer nur um ein vermeintlich klares "dafür" oder "dagegen", ohne die Möglichkeiten auch für Wähler:innen, eine der vielen Graustufen dazwischen oder gar eine ganz andere Farbpalette zu wählen. Statt unsere demokratische Gesellschaft zu stärken, untergraben sie so Zusammenhalt.
Dies kann am Ende des Tages nur eine lebendige repräsentative Demokratie leisten. Sicher, unser gegenwärtiges System ist nicht perfekt. Wie zuletzt die Masken-Affäre der Union gezeigt hat, gibt es ein Problem von Korruption in diesem Land, wo Repräsentant:innen in die eigene Tasche wirtschaften und den Interessen von Konzernen größeren Raum geben als den Interessen derer, die sie gewählt haben. Es gibt Mauscheleien und faule Kompromisse, bei denen wichtige Ziele unter die Räder geraten. Aber das sind Fehlentwicklungen, die korrigierbar sind -- durch größere Transparenz, eine starke und kritische Zivilgesellschaft und Presse und auch vor allem durch die überwältigende Mehrheit der politischen Engagierten (nicht nur meiner Partei, sondern quer durch die demokratischen Mitbewerber:innen), die nicht bereit sind, diese Schandflecken unserer Demokratie zu dulden und jeden Tag aus Überzeugung für das Gemeinwohl streiten.
Mit Ihrer engagierten und informierten Wahl können Sie dafür sorgen, dass es diese Männer und Frauen sind, die Ihre Interessen in den Räten und Parlamenten dieses Landes vertreten!
Mit freundlichen Grüßen
Josip Juratovic