Frage an Joseph Fischer von Gisela B. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Putin zerstört die Demokratie in Russland und seine Soldateska in Tschetschenien ist für Entführungen, Foter und Mord verantwortlich.
Warum treten Sie nicht öffentlich dafür ein, dass Russland unter diesen Umständen kein Mitglied der WTO werden darf? Warum kritisieren Sie nicht Schröder und Schäuble wegen ihrer hemmungslos opportunistischen Politik gegenüber Putin?
Liebe Frau Brandt,
Russland ist nicht nur ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates mit Vetorecht, sondern gehört auch zu den wirtschaftlich und militärisch wichtigsten Staaten der Welt und ist seit der EU-Erweiterung 2004 ein direkter Nachbarstaat der Europäischen Union. Deshalb sind die Beziehungen zu ihm von besonderer Bedeutung.
Im Russland unter Präsident Putin herrscht die sogenannte "gelenkte Demokratie". Dieses System bedeutet, dass alle elektronischen Medien unter der Kontrolle des Präsidenten stehen, die Gouverneure der 89 Regionen dieses größten Flächenstaates der Welt vom Präsidenten ernannt werden, das Parlament von der absoluten Mehrheit einer dem Präsidenten hörigen Partei dominiert wird, es keine unabhängige Justiz gibt und so gut wie alle wichtigen Unternehmen der Rohstoff- und Rüstungsindustrie - so genannte strategische Wirtschaftssektoren - unter Kontrolle des Staates sind. Die schwache Zivilgesellschaft und die kleinen liberalen Parteien dieses Landes ohne jede demokratische Tradition beklagen immer größere Einschränkungen und sehen eine Tendenz zur Restauration autoritärer "sowjetischer" Strukturen. Bekanntestes Beispiel dafür war der politische Schauprozeß gegen den ehemaligen Öl-Milliardär Chodorkowski, der sich der Kontrolle des Kreml entzogen hatte und den Aufbau einer demokratischen Alternative zu Putin unterstützte. Er wurde im Juni 2005 zu neun Jahren Straflager verurteilt.
Demokratie wird in Russland weitgehend nur simuliert. Das ist möglich, weil die Mehrheit der Bevölkerung keine positiven Erwartungen mit ihr verbindet. Denn die kurze Phase der Liberalisierung bis Mitte der 90er Jahre hatte gleichzeitig massive soziale Probleme und ein enormes Ansteigen der Kriminalität mit sich gebracht. Dieser Prozess wurde unter Putin gestoppt. Eines der größten Probleme in Russland ist der andauernde Krieg in Tschetschenien. Zwar ist er von Putin, der ihn 1999 mit seiner Wahl begonnen hatte, offiziell für beendet erklärt worden, aber nach wie vor terrorisieren die sogenannten Sicherheitsorgane die Bevölkerung des kleinen Landes im Nordkaukasus. Gleichzeitig verüben die tschetschenischen Separatisten Anschläge auf militärische und staatliche Einrichtungen. Daneben gibt es unter ihnen eine wachsende islamistische Strömung, die nach Art der Al Qaida Terroranschläge in ganz Rußland verübt. Schlimmstes Beispiel war die Ermordung hunderter Frauen und Kinder in der Schule von Beslan im September 2004.
Tschetschenien hat die angesichts seiner geringen Größe schlimmste Kriegs-Katastrophe in Europa seit dem 2. Weltkrieg erlebt und erlebt sie noch. Mehr als zehn Prozent der früheren Bevölkerung sind tot, mindestens ein Drittel geflohen. Große Teile des Landes sind nahezu vollständig zerstört. Tschetschenen werden in ganz Russland pauschal verfolgt. Beide Seiten begehen kontinuierlich und systematisch schwerste Menschenrechtsverletzungen und tragen so zur Fortdauer und Eskalation des Konfliktes bei. Der Krieg in Tschetschenien destabilisiert inzwischen die gesamte Kaukasusregion.
Sie werfen uns von Bündnis 90/Die Grünen hier zu wenig gegen den sogenannten "Putin-Freund" Gerhard Schröder vorzugehen. Es ist seit langem auch öffentlich bekannt, daß es unterschiedliche Einschätzungen zwischen Bündnis 90/ Die Grünen und dem Bundeskanzler zu Russland gibt. Auch Außenminister Joschka Fischer verhält sich gegenüber den Problemen in Russland anders als der Kanzler, wenngleich er in seiner speziellen Rolle mehr Rücksichten nehmen muß als Fraktion und Partei. Entscheidend für uns waren und sind unsere langjährigen und engen Kontakte zu Gruppen in der russischen Zivilgesellschaft, allen voran die Menschenrechtsorganisation MEMORIAL, aber auch Umweltgruppen wie Bellona oder das Komitee der Soldatenmütter. Ihre Beurteilungen der Entwicklung in Russland sind für unsere Einschätzung ein zentrales Hilfsmittel. Neben zahlreichen Reisen nach Russland und einer Reihe kritischer öffentlicher Äußerungen von Abgeordneten und Parteivorsitzenden gab es in den letzten Jahren vor allem zwei Aktivitäten, die sich gezielt auf Russland bezogen.
Im November 2004 veranstaltete die Bundestagsfraktion eine Konferenz zum Thema "Russland in der gelenkten Demokratie", auf der russische und deutsche Experten aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft eine kritische Bilanz der Entwicklung in der Regierungszeit von Präsident Putin zogen. Kurz zuvor hatte die BDK in Kiel einen Beschluß zur "Zukunft für Tschetschenien" gefaßt. Dieser sehr kritische Antrag wurde von der FDP fast wortwörtlich im Bundestag als eigener Antrag eingebracht, um die Meinungsverschiedenheiten in der Koalition vorzuführen. Die Bundestagsfraktion handelte daraufhin mit der SPD einen Alternativ-Antrag aus: "Stabilitätspolitik im Kaukasus und die Zukunft Tschetscheniens". Dieser wurde in den zuständigen Ausschüssen mit der rotgrünen Mehrheit beschlossen, konnte aber infolge der vorzeitig beendeten Legislaturperiode nicht mehr im Plenum des Bundestages verabschiedet werden.
Unsere Haltung ist klar: Die Beziehungen zu Russland sind von großer Bedeutung und wir befürworten ihre Intensivierung. Ein demokratisches Russland wird die Möglichkeit einer strategischen Partnerschaft zwischen Russland und der EU eröffnen. Daher unterstützen wir die Kräfte, die dort und in anderen Staaten der früheren Sowjetunion zu demokratischen Reformen beitragen wollen, und vor allem die vielfältigen Initiativen zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Wir verlangen ein Ende von Terror und Gewalt und eine politische Lösung des Tschetschenien-Konflikts auf dem Verhandlungsweg. Dazu kann und soll unserer Ansicht nach die EU einen Beitrag leisten. Und wir kritisieren die zunehmenden demokratischen Defizite und die häufigen Verletzungen der Menschenrechte. Wir sehen die politische Entwicklung in Russland mit wachsender Sorge und werden sie weiter aufmerksam beobachten und begleiten.
Wir Grünen opponieren gegen eine zu enge Kungelei mit Putin und Teile der SPD unterstützen uns dabei. Während der Kanzler den russischen Präsidenten als Demokraten sieht und Kritik an manipulierten Wahlen in Tschetschenien ablehnt, bewertet die Bundestagsfraktion die Entwicklung in Russland im wesentlichen ähnlich wie wir. Auch CDU und FDP formulierten eine ähnliche Einschätzung, was aber erkennbar darauf abzielte, einen Keil in die Koalition zu treiben. Eines der Hauptargumente war die Ablehnung einer von ihnen vermuteten "Achse Paris-Berlin-Moskau", deren Ausgangspunkt nach ihrer Auffassung die übereinstimmende Ablehnung des Irak-Krieges in diesen drei Ländern bildete. Das Wahlprogramm der CDU erwähnt jedoch lediglich, daß die Beziehungen zu Russland nicht "über die Köpfe der Nachbarstaaten hinweg" aufgebaut werden dürften. Das ist zwar richtig, aber es ist deutlich, dass das Thema für die CDU zweitrangig ist. Zu Zeiten der Regierung Kohl hatte dieser eine ähnliche "Männerfreundschaft" zu dem damaligen umstrittenen russischen Präsidenten Jelzin aufgebaut, und dies zu einer Zeit, als bereits der erste Tschetschenien-Krieg tobte. Gleichwohl wirft die Union in ihrem Programm der Bundesregierung eine "prinzipienlose Russlandpolitik" vor. Die PDS geht in ihrem ohnehin äußerst dürftigen außenpolitischen Teil des Programmentwurfs mit keinem Wort auf Russland ein.
Ich bedanke mich für Ihre Frage und wünsche Ihnen alles Gute.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Knoll
Wiss. Referent
MdB-Büro Joschka Fischer