Wie stellen Sie sich zu der Tatsache, dass der seit 1919 (nicht seit 2019!!!) bestehende Auftrag zur rechtssicheren Ablösung der Staatsleistungen an die christlichen Kirchen nicht erledigt ist?
Aus Drucksache Deutscher Bundestag 19/19273 vom 15.05.2020:
"Seit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung im Jahr 1919 ist die Ablösung der bis dahin an die Kirchen gezahlten Staatsleistungen Verfassungsauftrag, Art. 138 WRV. Auch in das Grundgesetz wurde dieser Verfassungsauftrag inkorporiert, Art. 140 GG. Für die rechtssichere Ablösung der Staatsleistungen durch die Länder ist ein Grundsätzegesetz des Bundes Voraussetzung, das die Grundsätze der Ablösung durch die Länder regelt. Die genaue Ausgestaltung der Staatsleistungen ist dann durch die Länder zu regeln. Seit 100 Jahren ist der Verfassungsauftrag jedoch unerfüllt. Der Bund hat bisher kein Grundsätzegesetz erlassen und damit seinen Verfassungsauftrag noch nicht erfüllt. Die beiden christlichen Kirchen erhalten aber so lange Staatsleistungen durch die Länder, bis diese sie durch eine Ablösung entschädigt haben. Derzeit belaufen sich die Staatsleistungen aller Bundesländer an die Kirchen auf jährlich circa 548 Mio. Euro. …"
Sehr geehrter Herr S.,
vielen Dank für Ihre Nachricht vom 24. Juli, in der Sie die bisher nicht erfolgte Ablösung der Staatsleistungen an die katholische und evangelische Kirche thematisieren.
In der Tat handelt es sich bei der Ablösung der Staatsleistungen um einen Verfassungsauftrag, der seit 104 Jahren nicht erfüllt wurde. Für uns als den verantwortlichen Gesetzgeber ist das selbstverständlich unbefriedigend, jedoch gibt es dafür auch praktische Gründe, die mit zu berücksichtigen sind.
Die Verpflichtung zur Zahlung der Staatsleistungen begründet sich durch verschiedene Säkularisationen im Rahmen der Reformation und ganz wesentlich den Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Mit diesem Gesetz wurden Ländereien der beiden christlichen Kirchen zur Kompensation der Gebietsverluste deutscher Fürstentümer an Napoleon von geistlichem in weltliches Eigentum überführt. Die Kirchen wurden also entschädigungslos enteignet. In der Folge kamen sie wegen dadurch entgangener Gewinne in finanzielle Schwierigkeiten, z.B. beim Betrieb christlicher Krankenhäuser. Um die Wohlfahrtsleistungen der Kirchen zu gewährleisten, gewährten ihnen die Fürstentümer daher ab den 1840er/1850er Jahren „Staatsleistungen“.
Dass die Ablösung dieser Leistungen wegen der finanziellen Abhängigkeit der Kirchen sehr komplex ist, zeigt gerade der von Ihnen angesprochene Art. 138 Abs. 1 S. 2 WRV. Die eigentliche Entscheidung der genauen Modalitäten einer Ablösung wird hier durch den Auftrag zur Erstellung eines Grundsätzegesetzes auf einen unbestimmten Zeitpunkt in die Zukunft verschoben und gerade nicht geregelt.
„Ablösung“ ist hier nicht als das bloße Weiterzahlen der bisherigen Leistungen zu verstehen, da diese lediglich den Ausfall wirtschaftlicher Gewinne der Kirchen, die sie aus dem enteigneten Eigentum gerade nicht mehr ziehen können, kompensieren. Eine „Ablösung“ kann nur eine Kompensation für den Wert des verlorengegangenen Eigentums selbst darstellen.
Rein praktisch gibt es nun zwei mögliche Optionen für eine solche Ablösung: Erstens, die Länder als Schuldner der jährlichen Zahlungen schließen jeweils auf freiwilliger Basis vertragliche Regelungen mit den evangelischen Landeskirchen bzw. dem Heiligen Stuhl ab. Problem ist hier, dass es zu einer Zersplitterung der Regelungen kommen würde. Solche Aushandlungen waren bisher nicht erfolgreich.
Option zwei ist die Ablösung durch ein zweistufiges Gesetzgebungsverfahren, wie sie in dem von Ihnen angefügten Gesetzentwurf geplant war und auch im Koalitionsvertrag der Ampel angestrebt wird. Erforderlich ist dafür zunächst ein Grundsätzegesetz des Bundes, das festlegt, wie genau die Ablösung in den 14 Bundesländern stattfinden soll (Hamburg und Bremen zahlen keine Staatsleistungen). In einem zweiten Schritt bedarf es dann 14 individueller Ablösungsgesetze durch die Länder, die auf die jeweilige Finanzleistungskonstellation zugeschnitten sein müssen.
Bei der Verabschiedung des Grundsätzegesetzes gibt es nun praktische und rechtliche Hürden, weshalb es bisher nicht verabschiedet werden konnte. Zunächst rechtlicher Natur den Art. 18 Abs. 1 des Reichskonkordats von 1933, in dem sich das Deutsche Reich und damit heute die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichtet, vor einer Ablösungsgesetzgebung das „freundliche Einvernehmen“ mit dem Heiligen Stuhl herzustellen. Das schränkt den Spielraum des Gesetzgebers stark ein. Zusätzlich kostet eine Ablösung nach aktuellen Berechnungen die Länder insgesamt ca. 10 Mrd. Euro. Vor dem Hintergrund der aktuellen finanziellen Lage in Deutschland verbunden mit der Bewältigung der Covid-19-Haushaltslücke ist das eine enorm große Summe, die zusätzlich zu den jährlichen Staatsleistungen durch die Länder zu zahlen wäre. Das ist politisch schwer durchsetzbar. Ebenfalls ist eine Ablösung zu günstigeren Konditionen nicht realistisch umsetzbar, da sie finanzielle Lücken bei den Kirchen erzeugen würde. Der Staat braucht die Kirchen aber für den Betrieb von karitativen Einrichtungen, kirchlichen Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern und vielem mehr.
Wie bereits angeführt, muss eine Ablösung wohl überlegt und abgestimmt mit allen beteiligten Akteuren stattfinden. Nur so können wir unverzichtbare Wohlfahrtleistungen im Staat weiter in Kooperation mit den kirchlichen Trägern garantieren.
Mit freundlichen Grüßen
Josef Oster