Warum bedauern sie den Atomausstieg auf einmal? Sie selbst und ihre Partei haben doch gegen eine Laufzeitverlängerung gestimmt?
Sehr geehrte Frau M.,
haben Sie vielen Dank für Ihre Frage.
Ich bin davon überzeugt: Die Ausstiegsreihenfolge aus Kern- und Kohlekraftwerken ist die Falsche. Länger auf schmutzige Kohlekraftwerke zu setzen anstatt drei sichere & klimaneutrale Kernkraftwerke weiter zu betreiben, ergibt keinen Sinn. Meine Priorität ist hier ganz klar: der Klimaschutz!
Diese Überzeugung ist auch kein Widerspruch zur Begeisterung für Erneuerbare Energien – im Gegenteil. Es ist die Überzeugung, dass das Wachstum von Sonne, Wind & Co vor den Kernkraftwerken zunächst erstmal die Kohlekraftwerke ersetzen sollte – nicht umgekehrt. Energie muss sicher, klimaschonend und bezahlbar sein.
Grundsätzlich ist es gut, dass mit dem Ausstieg ein jahrzehntelanger deutscher Kulturkampf befriedet wurde. Zumal ich selbst die aktuelle Kernspaltungstechnik für keine dauerhafte Lösung halte. Ich dachte dennoch, dass sich auf die oben genannte Priorisierung alle einigen können. Dies offen und mit Respekt für die verschiedenen Positionen diskutieren zu können, ist ein Wert an sich. Ein ebensolcher Wert sind aber unsere demokratischen Entscheidungsprozesse. Und auch deren Ergebnisse sind zu respektieren! Nicht die Ampel-Koalition schaltet die Kraftwerke ab, sondern deren Betriebserlaubnis im Atomgesetz endet. Diese Rechtslage haben wir von der unionsgeführten Vorgängerkoalition geerbt. Es gibt im Bundestag derzeit keine demokratische Mehrheit dafür, dies noch einmal zu ändern. Dies wäre übrigens auch in einer Jamaika-Koalition nicht anders – denn auch da wären die Grünen als Anti-Atom-Partei dabei.
Was ist daher jetzt zu tun?
Erstens: Wir müssen die Versorgungssicherheit gewährleisten. Es war mit Blick auf die schwierige Lage vor dem letzten Winter richtig, dass die FDP eine Laufzeitverlängerung durchgesetzt hat. Für den kommenden Winter ist die Lage besser, z.B. dank LNG-Terminals. Aber wir wissen nicht mit Sicherheit wie die Lage sich weiterentwickelt. So wie es unverantwortlich gewesen wäre, die drei AKWs mitten im Winter abzuschalten, ist es jetzt eine Frage der Vernunft, die kommenden Monate zumindest nicht den Rückbau zu starten.
Zweitens: So wie wir LNG-Terminals beschleunigt haben, werden wir jetzt bei Erneuerbaren Energien endlich schneller – inklusive Stromtrassen, Speichern & Wasserstoff – was zwingend ist, um Zeiten mit wenig Wind & Sonne zu überbrücken und so Erneuerbare grundlastfähig zu machen. Denn überall hier hängt Deutschland seit Jahren hinterher – und überall hier brauchen wir dringend mehr Tempo. Weshalb sich das Thema auch nicht für Oppositions-Parteipolitik eignet.
Die kommenden Jahre werden womöglich noch großen Pragmatismus verlangen, zum Beispiel mit Blick auf die heimische Schiefergasreserven für den Übergang. Und sie fordern große Offenheit – etwa für Techniken wie CCS; europäische Nachbarländer, die klimaneutralen Wasserstoff auch mit Kernkraft produzieren wollen oder die Forschung an neuen Techniken wie der Fusionsenergie.
Aber ob mit oder ohne Techniken, die wir heute noch gar nicht kennen – der Weg in eine bezahlbare klimaneutrale Zukunft kann uns gelingen. Und er muss es auch!
Mit freundlichen Grüßen
Johannes Vogel