Frage an Jörg-Otto Spiller von Harm N. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Spiller,
mich würde Ihre Meinung zum bedingungslosen Grundeinkommen interessieren.
Würde ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht sehr viele Probleme mit einem Schlag lösen? Eigentlich ist es egal, welche politische Debatte man beobachtet. Das Grundeinkommen könnte die Lösung sein.
Armut trotz Arbeit, Mobbing am Arbeitsplatz, unwürdige Arbeitsverhältnisse, Leistungsdruck und Stress, psychische Erkrankungen, Vorgesetzte die ihre Macht missbrauchen, ewige Praktikanten, etc.
All diese Probleme hätten Menschen nicht, wenn sie ein bedingungsloses Grundeinkommen zur Absicherung hätten. Arbeitnehmer müssten sich nicht mehr alles gefallen lassen. Man könnte auch einfach mal eine Auszeit nehmen und sich ehrenamtlich betätigen. Was uns zum Thema "Soziales" bringt ...
Kinderarmut, Chancenungleichheit im Bereich Bildung und Arbeit, Arm im Alter, zu wenig Geld und Personal in der Altenpflege, ...
Um es kurz zu fassen: Wäre das Grundeinkommen nicht die Lösung vieler Probleme?
Ich würde mich sehr über eine Antwort freuen.
Soziale Grüße
H. Neitzel
Sehr geehrter Herr Neitzel,
Monat für Monat ein existenzsicherndes Grundeinkommen, unbefristet und an keinerlei Bedingungen oder Gegenleistung geknüpft – wer fände das nicht verlockend? Das große Stück Freiheit, das die Vorstellung in Aussicht stellt, haben Sie trefflich beschrieben.
Eine Grundsicherung, die jedem Bedürftigen zusteht, wäre nichts Neues. Die gibt es in Deutschland seit langem. Wer hilfebedürftig ist, weil er weder über Vermögen noch über ausreichendes Einkommen verfügt, und für den auch kein Angehöriger unterhaltsverpflichtet ist, hat Anspruch auf staatliche Unterstützung. Aber man muss eben belegen, dass diese Voraussetzungen gegeben sind, sonst erhält man weder Arbeitslosengeld II noch Sozialhilfe.
Wäre es für unsere Gesellschaft besser, wenn jeder, ob nun hilfebedürftig oder nicht, Anspruch auf eine Grundsicherung aus öffentlichen Kassen hätte? Insbesondere auf konservativer und liberaler Seite finden sich einige Stimmen, die einen solchen Ansatz vehement befürworten. Am bekanntesten von ihnen sind der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus und der Drogeriekettenbetreiber Götz Werner. So propagiert Althaus, jeder Erwachsene solle unabhängig von seinem Einkommen und Vermögen monatlich 800 Euro aus der Staatskasse erhalten.
Wäre dieser Vorschlag umgesetzt gewesen, als meine Kinder noch studierten, hätte ihnen das vermutlich gefallen. Mir überhaupt nicht, weil ich der Meinung gewesen wäre, bei meinem Einkommen müssten nicht andere für den Unterhalt meiner Kinder aufkommen.
Mein Versuch, meinen Kindern die Annahme des bedingungslosen Grundeinkommens auszureden, wäre aber sicher gescheitert. Meine Kinder hätten gewiss völlig zu Recht geantwortet, andere Eltern mit ähnlichem Einkommen hätten solch altväterliche Skrupel überhaupt nicht und im übrigen sei ja gerade die sympathische Grundidee von Herrn Althaus, dass niemand nach seinem Einkommen oder seiner Bedürftigkeit gefragt werde. Das wahrscheinlichste Ergebnis: Meine Kinder und ich hätten Hälfte/Hälfte gemacht: Sie hätten aus der Staatskasse jeweils 800 Euro und von mir jeweils 400 Euro weniger als zuvor bekommen. Unterm Strich hätten der Bundestagsabgeordnete Spiller und seine Frau dann 800 Euro mehr im Monat zur Verfügung gehabt, oder vielleicht sogar 2400 Euro, weil Herr Althaus ja wohl meint, meine Frau und ich hätten Anspruch auf bedingungsloses Grundeinkommen.
Wäre das sozial gerecht gewesen? Meine Antwort: Nein, sondern absurd.
Die an diesem Beispiel illustrierte soziale Schieflage ist nicht mein einziger Einwand gegen das so genannte „solidarische Bürgergeld“ von Herrn Althaus oder ähnliche Modelle.
Zur Bedingungslosigkeit der Grundsicherung gehört immerhin auch, dass die Grundrechenarten nicht aufgehoben werden sollen. Deswegen haben sich Herr Althaus und Herr Werner durchaus überlegt, woher denn das Geld für die großzügige Spenderaktion kommen könnte. Ihre Antwort dürfte für die meisten Bürgerinnen und Bürger unseres Landes alles andere als attraktiv sein.
Wenn es die Grundsicherung gebe, seien nach einer Übergangszeit alle übrigen staatlichen Transferleistungen und sozialen Sicherungssysteme weithin entbehrlich, also zum Beispiel über die Grundsicherung hinausgehende Renten, Gesundheitsleistungen oder auch Ansprüche auf Arbeitslosengeld. Wem die Grundsicherung nicht genügt, müsse dann eben privat vorsorgen.
Mein Fazit: Der Vorschlag „solidarisches Bürgergeld“ oder „bedingungsloses Grundeinkommen“ ist eine Mogelpackung. Er läuft darauf hinaus, die sozialen Sicherungssysteme auf die Gewährung von Mindestleistungen zurückzustutzen und unseren Sozialstaat durch eine modernisierte Armenpflege zu ersetzen.
Die Sozialdemokratie steht für eine soziale und demokratische Gesellschaft. In dieser Gesellschaft ist der Mensch nicht nur Empfänger. Diese Gesellschaft lebt von der Verantwortungsübernahme aller, von zwischenmenschlicher Solidarität, aber auch von Leistung. Es ist ein Irrtum, dass bedingungslos gezahlte Alimente sozial seien. Im Gegenteil: Es ist leistungsfeindlich, motiviert die Menschen zum Ausstieg aus der Erwerbsarbeit und gerade wohlhabende Menschen werden aus der Verantwortung für sozial schlechter gestellte Menschen entlassen.
Mit freundlichen Grüßen
Jörg-Otto Spiller