Frage an Jo Leinen von Ralf K. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Werter Herr Leinen,
ich hörte heute im Deutschlandfunk (ja, es gibt tatsächlich interessierte Staatsbürger, die ihn hören) Ihre Aussagen zum Verzicht des Herrn Bundespräsidenten, die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages bis zur Entscheidung des BVG über die Klagen Gauweiler/Schachtschneider und DIE LINKE auszusetzen. Sie bezeichneten, mit einigem Bedauern, wie es schien, diese ehrenwerte Entscheidung von Horst Köhler sinngemäß als "zögerlich".
Hierzu meine Fragen:
1. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass ein derart weitreichender Vertrag, der möglicherweise Teile unserer Verfassung aushebelt, vor seiner Ratifizierung auf Herz und Nieren geprüft werden sollte , wenn nötig auch gerichtlich?
2. Was ist der Hintergrund für die Eile, die Sie und die meisten anderen Abgeordneten des EP und Bundestages zeigen, diesen Vertrag unbedingt durchzupeitschen?
Rechtssicherheit muss doch wohl in jedem Fall Vorrang vor Schnelligkeit haben!
Ihre heute getätigten Äusserungen bewirken doch nichts anderes, als bestehende Skepsis gegen dieses Vertragswerk zu verstärken.
Mit demokratischen Grüßen
Ralf Kulikowsky
Sehr geehrter Herr Kulikowsky,
anbei meine Antworten auf Ihre Fragen:
1. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass ein derart weitreichender Vertrag, der möglicherweise Teile unserer Verfassung aushebelt, vor seiner Ratifizierung auf Herz und Nieren geprüft werden sollte, wenn nötig auch gerichtlich?
Dieser Vertrag ist nicht vom Himmel gefallen. Er wurde über viele Jahre von Mitgliedern des Europäischen Parlaments, des Bundestages, des Bundesrates und der Regierung mit ausgearbeitet. Er wurde bei seiner Erarbeitung sehr regelmäßig von Politikern wie auch Juristen überprüft. Darüber hinaus haben der deutsche Bundestag und der Bundesrat dem Vertrag von Lissabon zugestimmt. Dieser Zustimmung gingen juristische Gutachten im Bundestag voraus. Trotz allem spricht natürlich nichts dagegen, dass das Bundesverfassungsgericht diesen Vertrag noch einmal auf Herz und Niere prüfen wird. Aber die Argumente, mit denen von Rechts und Links gegen den Vertrag geklagt wird, sind an den Haaren herbeigezogen. Nur auf zwei der Punkte eingehend: Die Bundesbürger werden weiterhin durch den Bundestag vertreten. Mit dem Vertrag von Lissabon wird dieser in der Europapolitik sogar gestärkt. Es kann also keine Rede davon sein, dass "das Grundrecht jedes Bürgers auf substantielle Vertretung durch den Deutschen Bundestag" verletzt wird, wie Peter Gauweiler behauptet.
Diether Dehm schreibt in seiner Klage, mit dem Vertrag von Lissabon werde "die Gemeinschaft auf eine marktradikale, neoliberale Politik festlegt". Auch ich bin der Meinung, dass noch nicht genug für ein soziales Europa getan wird. Aber mit dem Vertrag von Lissabon wird im Gegenteil die soziale Dimension gestärkt. Erstmals wird die EU als soziale Marktwirtschaft definiert, soziale Ziele werden mit wirtschaftlichen Zielen gleichgesetzt und mit den so genannten horizontalen Klauseln, werden alle EU-Institutionen darauf verpflichtet, zu mehr Beschäftigung, sozialer Integration und Gleichberechtigung beizutragen. Jeder der diesen Vertrag ablehnt, verhindert ein sozialeres Europa.
Niemand fordert den Bundespräsidenten auf, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorweg zu nehmen. Aber wie bei anderen internationalen Verträgen auch, hätte er die Ratifizierungsurkunde unterschreiben können, ohne sie aber gleich zu hinterlegen. Somit wäre das Ratifizierungsverfahren nicht abgeschlossen gewesen, das Gericht hätte frei seine Entscheidung treffen können und trotzdem wäre von solch einer Handlung ein starkes Signal für die Unterstützung des Vertrages von Deutschland ausgegangen.
2. Was ist der Hintergrund für die Eile, die Sie und die meisten anderen Abgeordneten des EP und Bundestages zeigen, diesen Vertrag unbedingt durchzupeitschen?
Europa darf sich nicht zu lange mit sich selbst beschäftigen. Wir stehen vor großen Herausforderungen: Klimawandel, Energie- und Nahrungsmittelpreise, Finanzmarktinstabilität und internationale Konflikte. Diese können erst mit dem neuen Vertrag effektiv angegangen werden, da er die notwendigen Grundlagen dafür schafft. Eine schnelle Lösung der Vertragsfrage würde uns daher endlich ermöglichen, die großen Probleme zu lösen.
Ein zweiter Aspekt drängt zur Eile: Im Juni 2009 werden die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden. Wenn der Vertrag von Lissabon zu diesem Zeitpunkt bereits in Kraft ist, wird danach der Präsident der Europäischen Kommission durch das Parlament gewählt. Die Legislative und die Exekutive in der EU wären dem demokratischen Willen der Bürger in der EU verantwortlich. Sollte der Vertrag bis dahin aber nicht in trockenen Tüchern sein, werden weiterhin die nationalen Regierungen hinter verschlossenen Türen die Besetzung der Kommission ausklüngeln. In diesem Fall würden wir fünf Jahre verlieren, bis wichtige demokratische Neuerungen des Vertrages angewendet werden können (die nächsten Europawahlen finden 2014 statt). Eine Verzögerung würde darüber hinaus wichtige Projekte wie eine gemeinsame Energiepolitik in Europa verzögern.
Mit freundlichen Grüßen
Jo Leinen