Frage an Jan Philipp Albrecht von Michael S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Albrecht,
ich wurde auf den Nachdenkseiten auf einen Bericht über die Zustände in Ungarn verwiesen. Gemeinhin ist Ungarn Mitgliedsland der EU und (somit auch) ein demokratischer Staat... Oder wie es in diesem Bericht heißt:
Maßnahmen, die innerhalb der Europäischen Union kaum kritisch hinterfragt und vom deutschen Botschafter Matei Hoffmann in Budapest als vorbildlich gelobt werden. So ist auf der Homepage der Deutschen Botschaft aktuell zu lesen, die ungarische Regierung habe „wichtige politische Projekte, etwa die EU-Strategie für den Donauraum und die EU-Roma-Rahmenstrategie, vorangetrieben“.
Um das ganze Ausmaß zu umreißen, beschränke ich mich an dieser Stelle darauf, einen weiteren kurzen Abschnitt des Berichts zu zitieren. (Der gesamte Bericht ist etwas über 5 Seiten lang und bspw. hier zu finden: http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/120711_reportage_romastrategie_in_ungarn.pdf )
4450 Asylanträge ungarischer Bürgerinnen und Bürger liegen den kanadischen Behörden allein aus 2011 vor. Im ersten Jahr der Fidesz-Regierung 2010 waren es noch 2350 Personen, die um politisches Asyl ersuchten. Juden, Intellektuelle und vor allem Roma machen politische Verfolgung in ihrer ungarischen Heimat bei den Behörden in Kanada als Fluchtgrund geltend. Menschen aus Ungarn stellen somit den drittgrößten Flüchtlingsanteil, der das nordamerikanische Land erreicht. [...] Die kanadische Regierung ist irritiert, dass eine so bedeutende Anzahl von Menschen aus einem Mitgliedsland der Europäischen Union flieht.
Wie stehen Sie dazu und werden Sie das Thema im Europäischen Parlament zur Sprache bringen? Müsste die EU nicht Maßnahmen gegen die ungarische Regierung ergreifen?
Zu sagen, dass dies ein Armutszeugnis für die EU ist, wäre eine beispiellose Untertreibung...
Mit freundlichen Grüßen
Michael Schulz
Sehr geehrter Herr Schulz,
ich teile Ihre Sorge bezüglich der Entwicklungen in Ungarn. Leider hat sich seit meiner letzten Antwort zu den Entwicklungen in Ungarn vom Januar 2011 die Situation nicht verbessert, im Gegenteil gibt es genügend Gründe die undemokratischen Entwicklungen und speziell die Situation von Minderheiten zu kritisieren.
Wie Sie richtigerweise feststellen, sind es vor allem Roma und Juden die negativ von der Politik der Fidesz-Regierung betroffen sind. Die Partei Jobbik und die ungarische Garde tragen zudem zu einem offen rassistischen und undemokratischen Klima in der Gesellschaft bei. Diese besorgniserregenden Entwicklungen thematisiere ich auch in meiner vor Kurzem erschienenen Broschüre "Europa Rechtsaußen - Rechtsextremisten und Rechtspopulisten im Europäischen Parlament" (Download und die Möglichkeit zur Bestellung finden sich unter www.janalbrecht.eu ). Was vielen Bürgerinnen und Bürgern Europas gar nicht bewusst ist, ist die Tatsache, dass sowohl Abgeordnete von Fidesz als auch Jobbik im Europäischen Parlament vertreten sind und die Politik Europas mitgestalten.
Ich wende mich entschieden gegen die undemokratischen Reformen der Orban-Regierung. Aus diesem Grund haben die Grünen mit den Stimmen der Linken, Sozialdemokraten und Liberalen im Februar diesen Jahres eine Resolution zur Lage in Ungarn verabschiedet, in der sich das Europäische Parlament "zutiefst besorgt über die Lage in Ungarn in Bezug auf die Praxis der Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die Achtung und den Schutz der Menschenrechte und der sozialen Rechte, die Gewaltenteilung, die Gleichheit und das Diskriminierungsverbot" zeigt. Ferner wurde die Kommission aufgefordert:
"die etwaigen Änderungen und die Durchführung der besagten Rechtsvorschriften und deren Vereinbarkeit mit Geist und Buchstaben der europäischen Verträge genau zu überwachen und sorgfältige Prüfungen durchzuführen, damit
a. die vollständige Unabhängigkeit der Justiz und insbesondere gewährleistet ist, dass die ungarische Justizbehörde, die Staatsanwaltschaft und die Gerichte generell frei von politischem Einfluss sind und die Amtszeit unabhängig ernannter Richter nicht willkürlich verkürzt werden kann;
b. die Regelungen über die ungarische Nationalbank mit den Rechtsvorschriften der EU vereinbar sind;
c. die institutionelle Unabhängigkeit in Bezug auf Datenschutz und Informationsfreiheit wiederhergestellt und im Wortlaut und bei der Anwendung des einschlägigen Gesetzes garantiert wird;
d. die Befugnis des Verfassungsgerichts zur Prüfung sämtlicher Gesetze in vollem Umfang wiederhergestellt wird, einschließlich des Rechts auf Prüfung von Haushalts- und Steuergesetzen;
e. die Medienfreiheit und der Medienpluralismus im Wortlaut und bei der Durchführung des ungarischen Mediengesetzes garantiert werden, vor allem im Hinblick auf die Beteiligung von Vertretern der Zivilgesellschaft und der Opposition im Medienrat;
f. das neue Wahlgesetz den demokratischen Normen der EU entspricht und der Grundsatz des politischen Wechsels geachtet wird;
g. das Recht auf Ausübung politischer Opposition auf demokratischem Wege innerhalb und außerhalb der Institutionen gewährleistet ist;
h. das Gesetz über Kirchen und Glaubensgemeinschaften die Grundsätze der Gewissensfreiheit achtet und auch davon Abstand genommen wird, die Registrierung von Glaubensgemeinschaften einer Billigung durch das Parlament Ungarns mit Zweidrittelmehrheit zu unterwerfen"
Die Abgeordneten der EVP-Fraktion, der neben der Fidesz auch die deutsche CDU/CSU angehört, haben gegen die Initiative innerhalb des Parlaments gestimmt. Ein umfassenderer Bericht wurde ausserdem durch die konservative Mehrheit im Rat abgelehnt. Es ist völlig unverständlich, warum die konservativen Parteien der Aushöhlung demokratischer Werte nicht entschieden entgegen treten wollen. Die Grünen im Europäischen Parlament werden auch weiterhin die Politik der ungarischen Regierung beobachten und einer kritischen Prüfung unterziehen. Nun wird die Kommission als "Hüterin der Verträge" in Zusammenarbeit mit Rat und dem Innenausschuss des Parlaments die Unabhängigkeit der Justiz und Nationalbank, die Medienfreiheit und die Rechte von Minderheiten in Ungarn einer genauen Überprüfung unterziehen. Über Teile der Reformen, wie die Richterpensionierung und die Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten, gibt es derzeit Vertragsverletzungsverfahren der Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Ungarn.
Mit freundlichen Grüßen
Jan Philipp Albrecht