Frage an Ingo Friedrich von Greg B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Bei Spiegel Online vom 13.06.2008 http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,559572,00.html steht, Zitat " Der stellvertretende CSU-Chef und langjährige Europapolitiker Ingo Friedrich wertet das Nein der Iren zum Reformvertrag von Lissabon als harten Schlag für die Europäische Union. Als Ausweg aus der Krise schlug der EU-Parlamentarier vor, einfach die Abstimmung in dem Land später zu wiederholen. "Trotz der großen Enttäuschung kann und muss die Erfolgsgeschichte Europas fortgesetzt werden", so Friedrich." Zitat Ende.
Sehr geehrter Herr Friedrich,
ihr Vorschlag ist wie, wenn ich jemandem eine versalzene Suppe vorsetze, dieser diese nicht essen möchte und eine neue Suppe verlangt und ich ihm einfach 10min später die selbe Suppe vortische.
Es ist ein demokratisches Armutszeugnis, das Irland das einzige Land ist, wo das Volk gefragt wurde. Hier in Deutschland währe der Vertrag sicherlich auch von der Bevölkerung abgelehnt worden, wie auch dieser Euro und die Osterweiterung.
Meine Fragen:
Warum teilen Sie die Befürchtungen der EU-Vertragskritiker nicht, wie diese z.B. auf folgender Webseite aufgeführt sind? http://www.eu-vertrag-stoppen.de/
Warum glauben Sie, dass Europa eine Erfolgsgeschichte sei? Ich selbst sehe nur, dass alles mit dem Euro teurer wurde, Firmen wie Nokia ins EU-Ausland abwandern, Kriminelle ungehindert die Grenzen passieren können, unsinnige Vorschriften die von der EU in Nationale Gesetze diktiert werden müssen, keine unabhängige nationale Währungspolitik, Subventionswahnsinn, Fahranfänger mit dem Auto EU Führerschein weniger anfangen können als mit dem alten deutschen Klasse 3 Führerschein, und und und...
Mit besten Grüßen
Greg Berdet
Sehr geehrter Herr Berdet,
vielen Dank für Ihr Interesse an der Europäischen Union.
Zu Ihrer Frage: Ist die Geschichte Europas als Erfolgsgeschichte zu charakterisieren? Ich meine ja. Sieht man nämlich genauer hin, so zeigt sich, dass viele Bedenken nicht berechtigt sind. Ist durch den Euro alles mehr als zum DM-Zeitalter teurer geworden? Berechnungen der Bundesbank haben ergeben, dass der Preisanstieg in den ersten zwei Jahren nach der Einführung des Euro insgesamt sogar um einen Prozentpunkt niedriger war als in den beiden letzten Jahren der D-Mark. Außerdem: Die Höhe der Inflation bei vielen besonders wichtigen Waren lässt sich nicht auf den Euro zurückführen, sondern auf explodierende Weltmarktpreise insbesondere bei Erdöl, Energie und Lebensmitteln sowie auf Steuerbelastungen durch Öko- und Mehrwertsteuer. Deswegen schlägt die CSU die Wiedereinführung der Pendlerpauschale vor.
Der Zorn der Mitarbeiter des Nokia-Konzerns hinsichtlich der Verlegung des Konzerns ist gut nachvollziehbar, da es Nokia anscheinend nicht gelungen ist, das Potenzial Deutschlands als global wettbewerbsfähige Kraft zu erschließen. Bezüglich der Verlagerung des Konzerns nach Rumänien hat allerdings bereits Kommissionspräsident Barroso betont, dass Nokia von der EU weder Mittel aus dem Strukturfonds noch aus dem Regionalfonds erhalten hat. Vielmehr setzt sich die EU für gemeinsame Regelungen und soziale Sicherheitsmechanismen ein, die als Modell dafür dienen können, wie auf die Auswirkungen der Globalisierung reagiert werden kann. Denn Europa ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft, es ist vor allem auch eine Wertegemeinschaft. Dazu gehört soziale Gerechtigkeit, die auf einem christlich sozialen Modell basiert. Konkurrenz und Solidarität sowie persönliche Verantwortung sind nicht unvereinbar, ein starker Markt gepaart mit einer starken wirtschaftlichen Stellung widerspricht nicht einem menschlichen Europa mit sozialer Verantwortung. Europa ist das Erfolgsmodell, um die soziale Marktwirtschaft auch global zu etablieren. Dazu muss die EU handlungsfähiger werden und stärker und geschlossener auftreten - was der Reformvertag von Lissabon ermöglichen soll. Nur so können China und andere Partner zu einem fairen Wettbewerb gebracht werden. Im Zeitalter der Globalisierung verlieren die Grenzen ihren trennenden Charakter.
In diesem Licht ist auch das Thema Subventionen zu sehen: Europäische Unternehmen, die weltweit konkurrenzfähig sein wollen, müssen in die Bereiche Forschung, Entwicklung und Innovation investieren. Sie müssen sich von der Konkurrenz abheben sowie ihre Kundenattraktivität steigern. In manchen Fällen können dies die Märkte allein nicht gewährleisten, woraufhin staatliche Hilfe benötigt wird. In ihrer Position als Leuchtturm für die soziale Marktwirtschaft gewährt die EU jedoch nur solche Beihilfen, die mit dem Binnenmarkt vereinbar sind und den freien Wettbewerb nicht verfälschen. Es ist eins unserer obersten Prinzipien, die Wirtschaftsbeziehungen menschlich zu gestalten. Derartige Subventionen gibt es heute in allen Staaten der Welt.
Auch für die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität ist die EU eine große Hilfe, weil die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Europa verbessert wird. Durch Informationsaustausch der verschiedenen Behörden und durch die Arbeit von EUROPOL wird ein hohes Maß an Sicherheit gewährleistet. Früher konnten Verbrecher einfach ins Ausland flüchten, heute wird auch dort nach ihnen gesucht.
Die große Zahl der EU-Gesetze mag vielleicht den Eindruck von mangelnder Effizienz erwecken. So mag man auf den ersten Blick vielleicht nicht nachvollziehen können, dass z.B. eine Richtlinie über die Etikettierung von Lebensmitteln dazu dient, den Verbraucher vor irreführenden Produktbezeichnungen zu schützen und nicht dazu, den Herstellern unnötige Schwierigkeiten aufzubürden.
Sie haben Recht, wenn Sie behaupten, dass der reguläre EU-Führerschein weniger Befugnisse erteilt als der alte deutsche Klasse 3 Führerschein. Aus diesem Grund haben die Inhaber eines Klasse 3 Führerscheins auch die Möglichkeit, entsprechende Anträge zu stellen. In manchen Fällen werden in dem EU-Führerschein zusätzliche Einträge auch automatisch vorgenommen. Was Fahranfänger betrifft, so ist zu sagen, dass die Richtlinie 91/439/EWG vom 29. Juli 1991 ("Zweite Führerscheinrichtlinie") auf zwei Grundsätzen basiert, die das Wohl der europäischen Bürger zum Ziel haben: Sie dienen zum einen der Erleichterung der Freizügigkeit der Bürger (und heute ziehen 100.000 Bürger jährlich in Europa um) und zum anderen der Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit. Um diese zu gewährleisten wurden verschiedene Bereiche wie die Führerscheinklassen EU-weit harmonisiert. Mehr zum EU-Führerschein finden sie auf der Website der EU-Kommission (http://ec.europa.eu/index_de.htm).
Richtig ist: Viele Bürger fühlen sich nicht mit der EU verbunden und haben das Gefühl, dass - wie auch ein Argument auf der von Ihnen angegebenen Internetseite lautet - über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Genau diese Nachteile sollte der Reformvertrag von Lissabon beseitigen, indem er die Arbeitsweise der EU transparenter macht und den Bürgern ein gewichtigeres Mitspracherecht, z.B. durch die Stärkung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente verleiht. So gilt nach dem Reformvertrag für die Rechtsetzung regelmäßig das Mitentscheidungsverfahren. Dadurch wird das Parlament mit dem Rat ebenbürtiger Gesetzgeber. Auf diese Weise funktioniert die Europäische Union mit den Menschen und nicht gegen sie.
Laut Reformvertrag muss ab 2014 für eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung im Ministerrat eine Zustimmung von 55% der Mitgliedstaaten und mindestens 65% der EU-Bevölkerung erreicht werden. Das entspricht dem deutschen Interesse als bevölkerungsreichsten Staat. Diese Abstimmungsregelung wird durch den Reformvertrag auf weitere 40 Politikbereiche erweitert. Ferner verleiht der Vertrag von Lissabon den Bürgern mehr Rechte, weil die EU-Grundrechte-Charta rechtsverbindlich wird.
Schließlich werfen die EU-Vertragskritiker der EU vor, dass sie den Grundsatz der Gewaltenteilung, ein wichtiger Bestandteil eines Rechtsstaats, nicht einhalte. Dies mag auf den ersten Blick so erscheinen, doch muss man dazu betonen, dass es sich bei der EU nicht um einen Staat (es ist auch ausdrücklich nicht das Ziel der EU, einen "europäischen Bundesstaat" zu schaffen) handelt, in dem eine klassische Gewaltenteilung gewährleistet werden muss. Vielmehr muss man auf EU-Ebene den Begriff des "institutionellen Gleichgewichts" verwenden. Denn im Mitgesetzgeber "EU-Ministerrat" sitzen in der Tat "exekutive" Minister der nationalen Regierungen. Ähnliches haben wir in Deutschland beim Bundesrat, wo auch Länderminister auf Bundesebene Gesetzgeber sind. Zur Vermeidung einer Vermischung wird durch nationale Maßnahmen (in Deutschland z.B. durch das "Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union" vom 12. März 1993) entgegengewirkt. Übrigens bewirkt auch hier die bessere Stellung des Europäischen Parlaments eine Stärkung der Legislative und der Demokratie.
Der beispiellose Wiederaufstieg Europas und Deutschlands inkl. der Wiedervereinigung wäre ohne Europa nicht möglich gewesen. Jetzt gilt es weltweit gemeinsam aufzutreten und die Interessen unserer Bürger gegenüber China und den anderen Giganten durchzusetzen.
Um diese Vorteile des Vertrags Wirklichkeit werden zu lassen, erscheint es überlegenswert, in der Republik Irland eine zweite Volksabstimmung über den Reformvertrag durchzuführen, was im Jahre 2001 auch zum Erfolg des Vertrags von Nizza geführt hat. Auch in Dänemark führte eine zweite Abstimmung 1992 zum Erfolg des Vertrags von Maastricht.
Mit besten Grüßen
Dr. Ingo FRIEDRICH, MdEP