Frage an Hermann Scheer von Patrick K. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Scheer,
können Sie mir schreiben, was genau Ihnen alles nicht vorgelegen hat, als Sie über den Vertrag von Lissabon abstimmen sollten?
Was hat Ihnen gefehlt? Halten Sie den jetzigen Prozess in irgendeiner Weise für gefährlich für die freiheitliche demokratische Grundordnung? Was genau befürchten Sie für Nachteile? Bisher ist die Entwicklung in der EU doch fast nur positiv zu bewerten.
Manche Personen befürchten, durch die komplizierten Formulierungen oder durch Vorbehalt von Einzelheiten solle am Volk vorbei etwas aufgebaut werden, was diesem dann die Rechte nimmt.
Halten Sie das für begründet oder für verschwörerische Paranoia?
Mich würde ernsthaft Ihre detaillierte Meinung zu dem Thema interessieren und was genau Ihnen weshalb nicht vorgelegen hat.
Vielen Dank für Ihre Antwort!
Mit freundlichen Grüßen
Sehr geehrter Herr Kast,
ich habe am 29. April diesen Jahres auf eine Bürgeranfrage zur Abstimmung im Bundestag über den Vertrag von Lissabon Folgendes geantwortet:
"Ich habe mich an der Abstimmung über den EU-Reformvertrag nicht beteiligt, weil ich mich grundsätzlich einer Teilnahme verweigert habe aus einem übergreifenden und zentralen Grund: Ein vollständiger Vertragstext lag nicht vor. Insofern fehlte aus meiner Sicht die Voraussetzung für eine entsprechende Abstimmung."
Da diese Äußerung in vielfacher Hinsicht falsch interpretiert wurde, möchte ich hiermit klarstellen, dass Folgendes gemeint war: eine vollständige konsolidierte Fassung des Vertrages lag dem Deutschen Bundestag nicht als offizielles Dokument im Zusammenhang mit der Abstimmung vor (beispielsweise als Anhang zum Gesetzentwurf der Bundesregierung).
Die Bundesregierung hat sich in ihrem Gesetzentwurf darauf beschränkt, nur das Nötigste aufzuführen. Auf Seite 152 der entsprechenden Bundestagsdrucksache (16/8300) konnte man dazu nachlesen : "Der Vertrag von Lissabon ist ... ein klassischer Änderungsvertrag. Das heißt, er baut auf der Struktur der bestehenden Verträge auf und ändert diese.". So war dann auch der Gesetzentwurf gestaltet: er führte nur die Änderungen auf, aber keinen endgültigen Vertragstext inklusive der Änderungen (konsolidierte Fassung). Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zur Bundestagsdrucksache völlig zu Recht ausgeführt: "Bedauerlich ist auch, dass von der Verabschiedung eines einheitlichen und transparenten Vertragstextes Abstand genommen .... werden musste.".
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung war der juristischen Form nach korrekt, für eine öffentliche Debatte jedoch vollkommen ungeeignet. Ich halte es für so bezeichnend wie bedauerlich, dass die Europäische Union erst am 15. April, also nur 9 Tage vor der Abstimmung im Bundestag eine konsolidierte Fassung des Vertragstextes vorgelegt hat. Deren Umfang beträgt 479 Seiten. Kaum ein Parlamentarier dürfte in der Lage gewesen sein in so kurzer Zeit dieses Dokument zu lesen und zu bewerten. Für die Bürgerinnen und Bürger gilt das ebenso. Vielfach herrscht deshalb, das belegen auch die zahlreichen Briefe und Mails die ich erhalten habe, in Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Ohnmacht vor.
Es ist politisch jedoch ein Fehler, den EU-Vertrag nicht zum Anlass einer breiten gesellschaftlichen Diskussion zu nehmen. Die Tatsache, dass ich mich nicht an der Abstimmung beteiligt habe, bezieht sich auf dieses Vorgehen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Hermann Scheer MdB