Frage an Heribert Hirte von Heike R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Professor Hirte,
die Destabilisierung des Nahen Osten wurde, meiner Ansicht nach, vor allen durch die desaströse US Außen- und Militärpolik der letzen Jahrzehnte beeinflusst. Weshalb leiten wir die Flüchtlingströme nicht in die USA um? Wirtschaftsflüchtlinge aus den ehemaligen Kolonien, sollten doch vorzugsweise nach Frankreich oder England, schließlich habe diese Staaten die ehemaligen Kolonien geplündert und damit destabilisert, oder? Wie lange noch soll Deutschland 40%(?) des Flüchtlingsstromes aufnehmen und versorgen und die anderen EU Staaten sich verweigern dürfen?
Bitte auf meine Fragen eine klare Antwort und keine allgemeinen Textbausteine, dass darf ich als mündiger und gebildeter Bürger doch erwarten, oder?
Heike Rogall
Sehr geehrte Frau Rogall,
haben Sie vielen Dank für Ihre Nachricht. Die aktuelle „Flüchtlingskrise“ bereitet vielen Bürgerinnen und Bürgern Sorgen und es ist die Pflicht deutscher Politik, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Auch wenn ich mit Ihrer Argumentation nicht übereinstimme, nehme ich mir gerne die Zeit um darauf näher einzugehen.
Ihre Anregung, Flüchtlingsströme in die USA weiterzuleiten, bringt uns leider in der aktuell schwierigen Situation, in der sich ganz Europa zurzeit befindet, nicht weiter. Nach den vermeintlich Schuldigen für die politische Lage in den betroffenen Ländern zu suchen, hilft nicht denjenigen, die sich gezwungen sahen, ihre Heimat zu verlassen, und nun nach Monaten und Jahren der Flucht hier bei uns in Europa Sicherheit suchen. Eine gute Flüchtlingspolitik wiederum muss nach sinnvollen Lösungen für die akuten Probleme suchen und darf sich nicht monatelang damit beschäftigen den Schuldigen zu finden. Für eine derartige Pauschalisierung sind außerdem die Ursachen für die derzeitige Migrationswelle aus dem Nahen Osten und den Balkan-Ländern zu vielschichtig. Nach Lösungen anstatt nach Schuldigen zu suchen gilt übrigens für Ihre Argumentation genauso wie auch für die aktuellen Spannungen zwischen Deutschland und östlichen EU-Mitgliedstaaten, insbesondere Ungarn. Es ist unsere Pflicht, gemeinsam denjenigen zu helfen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen und das ist nicht nur ein Gebot der Nächstenliebe, sondern festgeschriebenes Grundrecht: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, Artikel 16a Grundgesetz. Aus welchen Gründen auch immer: Diese Menschen kommen nach Europa und damit liegt es an uns, diese Herausforderung zu meistern. Dass die USA seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs nur etwa 1.500 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen haben, ist bedauerlich. Allerdings besteht auch hier Hoffnung auf Besserung: Die US-amerikanische Regierung hat unlängst eingestanden, eine moralische Verantwortung zu haben und hat erklärt, dass nun mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen werden sollen. Ob diese Zusage mehr als nur eine symbolische Geste sein wird, bleibt abzuwarten. In jedem Falle können wir die USA jedoch nicht etwa zu der Aufnahme von Flüchtlingen zwingen, oder diese schlicht „umleiten“. Bei Asylbewerbern handelt es sich nach wie vor um Menschen in Not, nicht etwa um frei disponierbare Resultate verfehlter Politik. Im Übrigen hat sich inzwischen auch das bei seiner Einwanderungspolitik sehr restriktive Australien zur Aufnahme einer großen Zahl von Flüchtlingen bereiterklärt.
In Bezug auf „Wirtschaftsflüchtlinge“ möchte ich Wert auf eine genaue Differenzierung legen. Es muss zwischen ausreisepflichtigen Einwanderern aus sicheren Herkunftsländern wie Albanien oder dem Kosovo einerseits und politisch Verfolgten andererseits unterschieden werden, die um Leib und Leben bangen müssen, und deshalb asylberechtigt sind. Was Erstere angeht, so ist für mich klar, dass wir diese nicht aufnehmen können und dürfen, da wir sonst Anreize zu Migrationsströmen ungeahnten Ausmaßes setzen würden. Ich setze mich für schnellere und konsequentere Abschiebungsverfahren ein, da nur so die vorhanden Kapazitäten effektiv zur Aufnahme politisch Verfolgter genutzt werden können (vgl. Pressemitteilung vom 20.08.2015, http://www.heribert-hirte.de/images/Pressemitteilungen/PM_Asylverfahren_Koeln.pdf ). Unabhängig von ihrer Herkunft sollen nach deutschem Recht Menschen, die aus sicheren Ländern nach Deutschland kommen, um ihre persönliche wirtschaftliche Situation zu verbessern, in ihre Heimat zurückkehren und nicht etwa - wie von Ihnen vorgeschlagen - in die Staaten ehemaliger Kolonialmächte gebracht werden. Die Politik ist in der Pflicht, die Menschen aus den betroffenen Staaten am besten schon in den Heimatstaaten darüber aufzuklären, dass sie in Deutschland keine realistische Chance auf ein Bleiberecht haben. Dahingehende Bemühungen haben auch schon erste Erfolge zu vermelden, so sind in der letzten Augustwoche aus dem West-Balkan nur noch etwa 2.500 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, in der zweiten Juliwoche waren es noch beinahe 5.500. Solche Bestrebungen müssen weiter verfolgt werden. Was hingegen diejenigen Menschen angeht, die ein Recht auf Asyl haben, so muss in Anbetracht unserer Lage eine Verteilung innerhalb Europas unabhängig von der Herkunft der Flüchtlinge nach pragmatischen Kriterien erfolgen, nicht etwa nach solchen historischer Verbindungen.
Als letzten Punkt haben sie das Problem der Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU angesprochen. Hier muss Europa zusammenstehen, um eine Lösung zu finden und eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf alle Mitgliedstaaten zu erreichen. Pläne der EU-Kommission, verpflichtende Quoten für die Verteilung einzuführen, scheiterten bislang leider am Widerstand des Vereinigten Königreichs und einer Reihe osteuropäischer Staaten. Dass Deutschland auf freiwilliger Basis die meisten Flüchtlinge aufnimmt, ist ein wichtiges und richtiges Signal in Richtung der anderen EU-Staaten, welche aber nicht zu vergleichbaren Einverständnissen gezwungen werden können. Angesichts des Widerstands osteuropäischer Staaten gelang es den EU-Innenministern am Montagabend in Brüssel leider noch nicht, einen Konsens zur Verteilung von 120.000 Flüchtlingen in Europa zu erzielen. Eine große Mehrheit hierfür besteht allerdings und konkrete Fortschritte gab es bezüglich der Einrichtung sogenannter Hotspots zur Flüchtlingsregistrierung und -verteilung in Staaten an den Außengrenzen der EU wie Griechenland und Italien. Sie haben recht damit, dass Deutschland momentan über 40% der Asylbewerber innerhalb der Europäischen Union aufnimmt. Jedoch ist Deutschland auch das größte und wirtschaftsstärkste Land der EU und lag im europäischen Vergleich im Jahre 2014 nur auf dem sechsten und im ersten Quartal 2015 auf dem vierten Rang, was die Asylanträge pro Einwohner des Zielstaates angeht. Nichtsdestotrotz kann Deutschland nicht dauerhaft so viele Asylbewerber aufnehmen. Deutschland muss auf nationaler Ebene Maßnahmen ergreifen, um der aktuellen Situation im eigenen Land gerecht zu werden. Es ist nun aber auch die Aufgabe europäischer Politik, auf die Staaten massiven politischen Druck auszuüben, die sich nicht zu Ihrer europäischen Verantwortung bekennen, und diese Diskussion alsbald zu einem Konsens zu führen.
Sie schlagen vor, durch einen Blick in die Vergangenheit dem Problem der Flüchtlingsströme zu begegnen. Ich bin der Meinung, dass es vielmehr eines konstruktiven Blickes nach vorne bedarf, um die Möglichkeiten, Menschen in Not zu helfen, voll auszuschöpfen. Deutschland kann dieses Problem nicht allein lösen. Hier muss sich die europäische Solidarität unter Beweis stellen. In dieser Krise geht es nicht nur um Geld: Die Werte, für die wir als europäische Union stehen, stehen auf dem Spiel.
Mit freundlichen Grüßen
Heribert Hirte