Frage an Herbert Reul von Jens T. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Dr. Reul,
in Brüssel gibt es schätzungsweise 20.000 Lobbyisten. Im EU-Parlament sind Sie 751 Abgeordnete. Ich habe von Abgeordneten gehört, die neben ihrer Arbeit für das EU-Parlament gleichzeitig auch Lobbyarbeit betrieben haben. Auch wird häufig davon berichtet, dass Gesetze nicht von Politikern gemacht werden, sondern schon in großen Konzernen vorgeschrieben werden, um dann von der Politik nur noch abgenickt zu werden. Bei einer solchen Beeinflussung durch mächtige Interessenvertreter der Wirtschaft stelle ich es mir sehr schwierig vor ausgewogene Entscheidungen für die Bürger und ihre Wähler zu treffen.
Werden Sie von Lobbyisten beraten? Wenn ja zu welchen Themen und aus welchem Hintergrund kommen diese Interessenvertreter?
Wie anfällig für eine solche Beeinflussung halten Sie sich? Schützen Sie sich dagegen?
Wie gewährleisten Sie, dass Sie auch andere Meinungen zur Entscheidungsfindung hören? Wo arbeiten Sie z.B. mit NGO´s oder anderen Vereinen ohne kommerzielle Interessen zusammen?
Dann würde mich auch interessieren, wie es es persönlich empfinden, dass EU-Parlament von Lobbyisten überrannt wird?
Sehen Sie eine Gefahr darin? Was denken Sie halten die Menschen von der EU, wenn Sie ständig von Beschlüssen erfahren, die wirtschaftlichen Interessen vor die Interessen der BürgerInnen stellen?
Ich freue mich auf Ihre Antworten.
Schönen Gruß
J. T.
Sehr geehrter Herr T.,
vielen Dank für Ihre Anfrage. Zunächst haben Sie recht, dass ein enormes Interesse an der Arbeit des Europäischen Parlaments von Interessensvertretern aller Art besteht.
Interessensvertreter kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen, ob aus Wirtschaft und Industrie, von nationalen oder regionalen Regierungen oder von Nichtregierungsorganisationen. Sie alle vertreten legitime Interessen. Politik findet nicht im luftleeren Raum statt, und sie braucht den Austausch mit den Betroffenen. Es ist begrüßenswert, wenn diese "Lobbyisten" ihre berechtigten Anliegen gegenüber der Politik vertreten. Natürlich erhalten wir Abgeordneten eine Vielzahl von Zuschriften und Anrufen, aber es ist besser so, als wenn sich niemand für die Gesetzgebung interessieren würde. Dann gäbe es sehr viel schlechtere Gesetze.
Sie erwecken den meiner Ansicht nach falschen Eindruck, dass es zwingend einen Gegensatz zwischen den Interessen der Wirtschaft und den Interessen der Bürger gebe. Das sehe ich nicht so. Interessen der Wirtschaft sind meist auch die Interessen von einfachen Bürgern. Wenn es Unternehmen gut geht, sichert das und schafft Arbeitsplätze. Dadurch haben Bürger ein Einkommen. Wenn große Arbeitgeber also Anliegen an die Politik herantragen, wäre es falsch, wenn sich die Politik diese Anliegen nicht anhören würde. Das gleiche gilt aber genauso für die Anliegen von Nichtregierungsorganisationen, Bürgerinitiativen und sonstiger Vereine, Verbände usw.. NGOs haben die gleiche Legitimation, und auch diese Interessen hört sich die Politik, und höre ich mir, an.
Als Abgeordneter ist es meine Pflicht, in der Gesetzgebung nach besten Gewissen zwischen den bestehenden Interessen abzuwägen. Dass der Einfluss der Wirtschaft insgesamt größer als von Nichtregierungsorganisationen ist, sehe ich nicht. Im Gegenteil: ich würde mir häufig eine wirtschaftsfreundlichere Politik wünschen, und setze mich auch dementsprechend ein. In der derzeitigen wirtschaftlichen Situation muss die Schaffung von Arbeitsplätzen Priorität haben. Viele Menschen in der EU leiden unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen und einer hohen Jugendarbeitslosigkeit. Die EU wird diese Bürgerinnen und Bürger nur überzeugen können, wenn sie ihnen Perspektiven bietet. Mit einer wirtschaftsfeindlichen Politik wird man das nicht schaffen.
Mit freundlichen Grüßen
Herbert Reul
Ps. Es ist nett dass Sie mir einen Doktortitel zuschreiben, promoviert habe ich jedoch nicht.