Frage an Helmut Seuffert von Corina H. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Seuffert,
Sexuelle Gewalt ist weit verbreitet: beinahe jede siebte Frau erlebt mindestens einmal in ihrem Leben strafrechtlich relevante Sexualdelikte. Wie eine Studie des Bundesfamilienministeriums bereits vor 9 Jahren herausfand, zeigt jedoch nur jede zwanzigste Frau das ihr Angetane an. Da der Schutz vor Gewalt im Grundgesetz garantiert wird, sexuelle Gewalt jedoch strafrechtlich kaum geahndet wird, möchte ich Sie Folgendes fragen::
- Wie wollen Sie präventiv gegen sexuelle Gewalt vorgehen? Dies ist zum Beispiel in Bildungseinrichtungen wichtig, wo Heranwachsende für einen respektvollen Umgang mit eigenen Grenzen und denen anderer sensibilisiert werden können. Des Weiteren zeigte sich, dass Kampagnen, die sich an potentielle Täter richten, positive Effekte verzeichnen. Insbesondere in Hinsicht auf den kaum zu kontrollierenden Einsatz von KO-Tropfen ist das bedeutsam.
- Vielfach scheitern Gerichte daran, der Situation der Betroffenen von sexueller Gewalt gerecht zu werden, weil sie mit den Besonderheiten der Verbrechensfolgen nicht vertraut sind. Oft werden diese den verletzten Zeug*innen sogar negativ ausgelegt, anstatt sie als Indiz zu werten. Werden Sie dafür sorgen, dass bundesweit flächendeckend in Gerichten Spezialkammern für Sexualdelikte eingerichtet werden?
Anmerkung: Diese Frage wurde im Rahmen der Aktion "Wahlcheck: Wen kümmert sexuelle Gewalt?" der Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt gestellt. Ihre Antwort wird dort zitiert werden.
Mit freundlichen Grüßen,
Corina Haurová
Sehr geehrte Frau Haurová,
danke für Ihre Fragen zu einem sehr vielschichtigen und komplexen Thema. Ich finde es sehr gut, dass Sie diese Fragen öffentlich stellen und hoffe, dass Sie sie auch anderen Abgeordneten stellen, um das Problemfeld sexuellen Missbrauchs im Bewusstsein zu halten.
Wahrscheinlich werden Sie mich gar nicht mehr wählen, wenn ich Ihnen offen und ehrlich sage, dass ich keine einfache Lösung auf diese komplexen Fragen habe und dass ich an manchen Stellen einfach ratlos bin. Vielleicht gibt es aber auch nicht immer einfache Lösungen zu realen Problemen. Aber vielleicht können Sie mir auch wichtige Anstöße zu Lösungswegen geben?
Wenn wir Lösungen suchen wollen, müssen wir zunächst einmal verschiedene Arten sexuellen Missbrauchs auseinander halten. Die klassische typische Vergewaltigung durch einen Fremden kommt eher selten vor. Der überwiegende sexuelle Missbrauch findet nach Daten der Statistik im Alter von 6 bis 14 Jahren und an Mädchen statt. In 9 von 10 Fällen ist der Täter dem Opfer bekannt, in 7 von 10 Fällen gehört der Täter der Familie oder deren nahem Umfeld an. Soviel zu den Zahlen. Leider verbirgt sich aber hinter diesen Zahlen immer ein tragisches Schicksal eines oder mehrerer Menschen.
Ich bin nun kein Fachmann auf diesem Gebiet. Ich habe in manche Aspekte einen Einblick durch eine enge Verbindung zum Anna-Freud-Institut in Frankfurt, und einen regelmäßigen Austausch mit Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Ich stelle dabei immer wieder fest, dass viele Einzelfälle individuelle Lösungen erfordern. Das, was im einen Fall hilft, ist auf einen anderen nicht übertragbar.
Vielleicht haben Sie ja eine gute Antwort auf die Frage, wie man mit 6 bis 14 Jahre alten Kindern und Jugendlichen (meistens Mädchen) präventiv so arbeiten kann, dass sie bereit sind, sich einer außerfamiliären Vertrauensperson zu offenbaren oder gar gegen ihren Vater oder Bruder Anzeige zu erstatten. Ich glaube, ein paar gute Worte im Unterricht oder einige Flyer, die ausliegen, reichen da nicht. Ich weiss momentan nur von zwei Situationen, in denen ein Ausweg sich öffnet: erstens, wenn die Täter selbst Hilfe suchen (was aber nur sehr selten geschieht, weil auch fast nicht angeboten), oder zweitens wenn die Symptome des Opfers so drastisch und auffällig werden, dass es therapeutische Hilfe benötigt - und die dann auch bekommt. Das so Frustrierende ist, dass beides - wenn überhaupt - meist viel zu spät eintritt.
Insoweit sehe ich zwei Möglichkeiten einer schnellen Hilfe:
1. muss die Eingangsschwelle zu Beratungsstellen noch viel niedriger werden. (für Opfer und Täter - da ja in vielen Fällen auch die Täter in ihrer Kindheit selbst Opfer waren).
2. muss therapeutische Betreuung schneller einsetzen können und gefördert und ausgebaut werden. Das ist im Übrigen am Rande auch eine Frage der Finanzierung einer Therapie durch die Krankenkassen.
Ich bitte um Ihr Verständnis, ich könnte, ja ich würde sogar sehr gerne diese Fragen mit noch mehr vertiefen und diskutieren. Hier ist leider nur begrenzt Platz.
Was die ko-Tropfen betrifft ist sich die amtliche Statistik nicht so ganz einig, wie groß die Fallzahl der Betroffenen ist. Das hat aber vielleicht auch den ganz einfachen Grund, dass diese Substanzen nach der Verabreichung oft nicht mehr nachweisbar sind, die betroffenen Opfer ihren blackout mit anderen Ursachen erklären oder gar aus Scham schweigen. Mir ist - nebenbei bemerkt - völlig egal, ob der Täter das Opfer mit ko-Tropfen, mit Alkohol oder mit anderen Substanzen wehrlos macht. In jedem Falle zeugt diese Vorgehensweise von kriminellem Vorsatz und ist strafbar. Ob aber das Risiko einer Anklage wegen des Tatbestandes der gefährlichen Körperverletzung ausreicht, um einen Täter davor abzuhalten, kann angesichts der Probleme beim Nachweis mit Fug und Recht bezweifelt werden.
In einem Punkt aber besteht nach meiner Ansicht ein Nachbesserungsbedarf. Es kann nicht sein, dass es mir verboten ist, ein Einhandmesser mitzuführen, das bei vielen täglichen Arbeiten durchaus praktische Hilfe sein kann. Aber ko-Tropfen kann ich völlig unbehelligt und legal bei mir tragen, obwohl die eigentlich ausschließlich für eine kriminelle Tat eingesetzt werden können. Also ganz klar: Der Erwerb, der Besitz und das Mitführen solcher Substanzen muß unter Strafe gestellt werden. Das sind schließlich keine Scherzartikel.
Das Problem der Abfüllung und Gefügigmachung mit Alkohol wird aber dadurch nicht erfasst. Da sehe ich nun leider auch viele Eltern in der Pflicht - der sie aber nicht adäquat nachkommen.
Ob die Einführung von Spezialkammern für Sexualdelikte tatsächlich zu mehr Gerechtigkeit führen - ich kann das nicht beurteilen. Wir können ja auch nicht Gerechtigkeit daran messen, wieviele und wie harte Urteile gesprochen werden. Ich selbst mag mir auch nicht das Recht anmaßen, in einem Gerichtsverfahren der bessere Richter zu sein. Und für die Beurteilung von Verbrechensfolgen sind maßgeblich auch sowohl Gutachter wie auch die Ermittlungsbehörden da, die die Gerichte mit den zu einem ausgewogenen Urteil erforderlichen Informationen und Indizien versorgen. Nein, insofern bin ich noch nicht davon überzeugt, dass die Einführung bundesweiter Spezialkammern für Sexualdelikte einen Schutz vor Gewalt wirksam verbessern kann.
Das kann aber durch mehr Aufklärung und Diskussion geschehen. Gerade wegen der hohen Dunkelziffer darf dieses Thema nicht mit einem verschämten "hier doch nicht" abgelegt werden. Immer und immer wieder muss betont werden, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein Grundrecht ist, das jedem Menschen, egal welchen Geschlechts oder Alters garantiert ist. Immer und immer wieder muss darüber geredet werden, dass sexuelle Gewalt, sexuelle Übergriffe keine tolerierte Form pubertären Balzverhaltens oder erotische Spielerei sein können. Ganz besonders in den Schulen. Auch schon in den Grundschulen kann darüber geredet werden, dass auch Schulkinder aufeinander achten, einander helfen und - noch viel mehr - einander respektieren. Auch gerade in den Grenzen, die der eine oder die andere setzt. Und es muss immer wiederholt werden: Sexuelle Gewalt ist nicht nur körperliche Gewalt, sie beginnt nicht einmal verbal, sie beginnt schon im Denken.
Sehr geehrte Frau Haurová, ich weiß nicht, ob ich Ihnen die erhofften oder gewünschten Antworten geben konnte. Aber darum gehts auch nicht. Sondern es geht darum, dass Ihre Nachfragen legitim und (gesellschaftlich!) wichtig sind und ich Ihnen vielleicht vermitteln konnte, dass ich im Kampf und im Engagement gegen sexuelle Gewalt in jeder Form auf Ihrer Seite bin. Mag sein, dass wir im Detail zu anderen Beurteilungen kommen. Aber im Ganzen gesehen gilt für mich: In unserer Gesellschaft, in der Gesellschaft, die wir mitgestalten wollen und unseren Kindern weitergeben, da ist kein Platz für sexuelle Gewalt.
mit freundlichen Grüßen
Helmut Seuffert